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Die Welt zerfällt

Von Thomas Wischnewski

Die Erde hat Mensch! So wird die zerstörerische Kraft der Menschheit auf seine natürliche Umwelt gern beschrieben. Erklärungen und Konzepte gegen die Entwicklung berücksichtigen oft nicht, wie die Menschen im Versuch, sich in ihrer Vielfalt zu verstehen, im Geiste auseinanderdriften. Der Versuch einer Analyse.

Atlas gilt in der griechischen Mythologie als Titan, der das Himmelsgewölbe am westlichsten Punkt der damals bekannten Welt stützte. Somit verkörpert er im Altertum die Idee, welche Kräfte den Zusammenhalt der Welt garantieren. Über 2.000 Jahre hinweg haben Menschen durch Überlegung und Wissenschaft neue Gebäude ihres Weltverständnisses errichtet. Wir sind vom Vielgötterglauben zum Monotheismus gewechselt. Haben das geozentrische Weltbild gegen das heliozentrische ausgetauscht. Mit besseren optischen und radiologischen Messmethoden wuchs die Einsicht über die Unvorstellbarkeit von Größe, Ursprung und Zukunft des Universums und damit einher setzte der Bedeutungsverlust der Gattung Mensch ein. Die kopernikanische Wende bezeichnete der Psychoanalytiker Sigmund Freud als eine „kosmologische Kränkung“ des Menschen, die den ersten Platz in den historischen Kränkungen der Menschheit einnehme. Besser müsste man allerdings von einer Selbstkränkung sprechen. Und alle weiteren Entwicklungen über das Menschsein sind im Grunde genommen die Fortschreibung eines sich auflösenden Selbstverständnisses, weg von Atlas hin zu einer Unfassbarkeit, warum wir sind und wohin wir sollten.
Nicht nur das naturwissenschaftliche Verständnis über die Zusammenhänge von Welt musste sich unter der Entwicklung immer weiter differenzierter Modelle zu quantentheoretischen Vorstellungen beispielsweise von der klassischen Mechanik verabschieden.

 

Der zerfaserte Glaube

Nun soll an dieser Stelle gar nicht vom Zerfall der Welt in astrophysikalischer Sicht die Rede sein, sondern von der Auflösung einer Verstehenskultur, die sich nämlich aus immer differenzierteren Erklärungen, weltkulturellen Überschneidungen und arbeitsteiligem Wirken sowie dynamisch gesellschaftspolitischer Sichtweisen speist. Die folgende Aufzählung kann nicht vollständig sein, vermittelt jedoch einen Eindruck, warum wir zunehmend kulturelle und politische Auseinandersetzungen wahrnehmen.
Bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts lag der Anteil der Mitglieder in den christlichen Kirchen noch bei über 90 Prozent. Inzwischen ist die Mitgliederzahl auf unter 45 Prozent an der Gesamtbevölkerung zurückgegangen. So eine Zahl sagt natürlich gar nichts über die Glaubensintensität eines Menschen aus. Inzwischen leben in Deutschland 5,5 Millionen Menschen aller muslimischen Glaubensrichtungen. Rund 1,5 Millionen Menschen fühlen sich den orthodoxen Kirchen verbunden. Etwa 35 Millionen in Deutschland lebende Menschen geben an, konfessionslos zu sein. Obwohl unsere Verfassung die freie Religionsausübung garantiert, nehmen unter den unterschiedlichen Gruppierungen Glaubensauseinandersetzungen zu. In der BRD sind offiziell insgesamt 110 unterschiedliche Glaubensgemeinschaften registriert Wer will da einen inhaltlichen Überblick behalten, Ausgleich und Konsistenz erzeugen. Nun gab es weltweit schon immer unzählige Glaubensgemeinschaften. Bisher konnte sich die Wissenschaft noch nicht einmal auf eine konkrete Anzahl an Religionen einigen, geschweige denn, die Vielzahl an Glaubensgemeinschaften einordnen. Der Unterschied auf dem deutschen Territorium zu vorherigen Jahrhunderten ist nur, dass Religiosität auf kleinem Raum diverser wird und räumliche Zuordnungen bzw. Trennlinien schwinden.

 

Feinde der Heteronormativen

Eine noch relativ junge geistige Auseinandersetzung ist die über soziale Geschlechterfragen. Weder findet sich in der Wissenschaft bisher eine eindeutige begriffliche Unterscheidung dazu, noch kann der Einfluss von Autosuggestion über mögliche ldentitätskonzepte, noch der interaktive Einfluss von Gruppen letztgültig beschrieben werden. Dennoch werden politische Debatten über das Thema geführt, als verfügte die eine oder die andere Gegenseite über der Weisheit letzten Schluss. Gerade bei diesem Thema zeigt sich die Tragik aktueller Debattenkultur. Schließlich wuchern ldentitätsfragen heute in die Sprache, in rechtliche Normen, biologische Konzepte, Gerechtigkeitsvorstellungen bis hin zu einer Flut an Opfererzählungen. Die private innere Definition, das Selbstverständnis spült sich über jede bisherige Gruppenüberzeugung. So entsteht zum Beispiel der Eindruck, dass alle sogenannten Heteronormative schon ein Feindbild seien, weil ihnen subtil unterstellt wird, alles andere Diverse oder Andersartige zu verhindern bzw. nicht zulassen zu wollen. Kurioserweise haben sich jedoch alle unterschiedlichen sozialen Identitäten genau unter dieser „normalen“ heterosexuellen Mehrheit entwickelt. Und nun soll dies in mancher zugespitzt politisierten Argumentation verhindert werden? Das kann so nicht stimmen und grenzt ein wenig an Selbstverleugnung, wenn mit dem Finger auf die andere – als Gegnerschaft ausgemachte – Seite gezeigt wird. 

 

Mehr politische Kontroversen

So wie sich in den drei vorangegangenen Aspekten erkennen lässt, dass in der Dynamik fortschreitender Differenzierung zugleich Konflikte und Ab-spaltungen enthalten sind, sind Konfliktausweitung und Desorientierung seit spätestens 2015 mit der bis dahin größten Zuwanderung aus der muslimischen Welt deutlich in der Gesellschaft zu sehen. Allerdings wurden Kritik und Hinweise auf künftige Konflikte den Begriffen Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus zugordnet. Acht Jahre später sind die damaligen Einwände im Alltag der Deutschen angekommen. Die AfD ist weniger an ihrem Eurokritischen Währungsursprung gewachsen, sondern an der Dynamik von Flüchtlings- und Migrantenströmungen.
Wenn der rechts-konservative Bevölkerungsanteil in Wahlumfragen inzwischen bei über 20 Prozent ankommt, liegt das auch daran, dass sich die Kritik an der AfD im Wesentlichen an extremistischen Tendenzargumenten abarbeitet. Man kann jedoch keine gesellschaftliche Entwicklung unabhängig vom Gesamttrend bzw. von seiner Ursprungs- oder Gegenbewegung abspalten. Auf der politischen Bühne ist das jedoch das einzig aufgeführte Theaterstück. Je mehr Ablehnung nach rechts artikuliert wird, umso mehr wird der eigene Anteil an der gesellschaftlichen Genese verschleiert. Man kann dies sehr gut an der aktuellen Bewegung an den sogenannten Rändern beobachten. Die Partei Die Linke erlegt sich offenbar gerade selbst. Die Führung ist sich über den Kurs nicht mehr einig. Die Leute um die Vorsitzende Janine Wissler erzählen weiter die Geschichten um ein Zukunftsmodell, dass seine Wurzeln in der weiter ausufernden Identitätspolitik hat und die anderen um Sarah Wagenknecht sowie die scheidende Fraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali wollen augenscheinlich zurück zu sozialen Konzepten, für die die Linken in der Vergangenheit eingetreten sind.
Ähnlich zuspitzend ist die Entwicklung am ganz rechten Rand, wo Überzeugungen dann in umstürzlerisches Gedankengut münden. Die eine Seite will mit der anderen nichts zu tun haben und übt sich in Feindschaft, obwohl die eigene Entwicklung nie ohne die andere gesehen werden kann. Eine heute oft wahrgenommene Desorientierung in der Gesellschaft hat sich letztlich vielfach durch eine ausufernde Erzählungsvielfalt erzeugt. Und genau deshalb entstehen Gegenbewegungen, die letztlich nur Ausdruck nach Orientierung sind. Diese zugleich als politische Gegnerschaft auszumachen – wobei dies vorrangig von politischen Vertretern der Ursprungsgeschichte ausgeht – ist genauso hilflos wie die umgedrehte Feinderzählung. Nun versuchen solche Leute, die daran glauben, dass alleinig die Sprache für ausufernde Gewalt und Machteinflüsse verantwortlich ist, die Sprache nach theoretischen Vorstellungen zu modifizieren. Im Prinzip können wir da ins Altertum zurückkehren. Auch da sind Religionsschriften Versuche gewesen, das Zusammenleben von Menschen vorzuschreiben und ein gerechtes Verständnis für die damalige Zeit zu erzeugen. Die Menschheitsgeschichte hat trotz gut gemeinter Texte immer noch fürchterliche Auswüchse hervorgebracht. Indes wird keine noch so destruktive Entwicklung unter sprachsensiblen Vorgaben aufzuhalten sein. Im Gegenteil – sie werden erst zum Kern von Konflikten, die es zuvor gar nicht gab.

 

Die Folgen von mehr Freizeit

Noch einmal ein Blick auf die menschliche Zerstörungskraft der Menschheit gegenüber den eigenen natürlichen Lebensressourcen. Vor genau 100 Jahren wird die Weltbevölkerung noch auf rund 1,8 Milliarden Menschen geschätzt. Bis heute haben wir uns also mehr als vervierfacht. In knapp 70 Jahren soll die Schallmauer von 10 Milliarden erreicht sein. Was waren die Voraussetzungen für dieses Wachstum? Produktivität, zunehmende Arbeitsteilung, Ernährungsfortschritte mit Ausschluss von häufigen Hungerzeiten, Mobilitätpotenziale, steigende Gesundheitsversorgung, einhergehend mit Hygiene und Krankheitsbekämpfung, weniger schwere körperliche Arbeit und zunehmende Freizeitpotenziale können hier sicher als Haupttriebkräfte der Explosion eines Bevölkerungszuwachses angeführt werden.
Der Begriff Freizeit soll an dieser Stelle noch etwas näher betrachtet werden. Ohne die Möglichkeit, sich neben der Arbeit in Produktions- und Verwaltungsprozessen selbst verwirklichen zu können bzw. Vorstellungen von familiärem Zusammenleben, Reisen, Hobbys und vieles andere mehr umzusetzen, würden manche Negativfolgen durch die Menschheit ebenso wenig denkbar sein. Die technische Entwicklung ist nur die eine Seite der Medaille, die andere speist sich aus der Kreativkraft des menschlichen Geistes. Sich neben dem Wohnen — ob Mietobjekt oder Eigenheim — mehrere Mobile vom Geländewagen bis zum E-Bike, Freizeitgrundstücke, Boote, Wohnmobile, Kreuzfahrt-Unternehmungen u.v.a.m. sich selbst und dem eigenen Leben als bedeutsam zu zuordnen, braucht die Zeit dazu, um solche Dinge realisieren zu können. Und nun denke man sich den Unterschied zwischen 1,8 Milliarden Individuen weltweit, die damals übrigens noch keinen gesetzlichen Urlaub kannten und heute über 8 Milliarden Menschen mit wachsenden Zeitpotenzialen.
Außerdem ist die Welt — zumindest in unzähligen Inszenierungen — heute permanent vor den Augen von Milliarden Smartphone-Nutzern und anderen Bildschirmkonsumenten. Die Zeit der Konzentration auf eine Sache nimmt ab, während die Nutzer gleichzeitig versuchen, eine Informationsflut aufzuarbeiten. Orientierung wird unter diesen Trends weiter zurückgedrängt. Die Ergebnisse sieht man an den verheerenden Ergebnissen von Lese- und Schreibfähigkeiten Heranwachsender. Nun sollen sowohl ältere Generationen als auch die nachwachsenden die kulturellen, gesellschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen und zahlreichen anderen, auf sie einströmenden Impulse angemessen verarbeiten können. Das wird weiter schief gehen. Die Auseinandersetzungen werden an Schärfe zunehmen. Und politische Vereinfachung von welcher Seite auch immer — die kommt nämlich nicht nur von rechts, sondern gleichermaßen von links — lassen alles bisher verbrieft geglaubte Weltverständnis weiter bröckeln. Man müsste sich auch den Globalisierungsauswirkungen und vielen anderen politischen, nationalen und kulturhistorischen Entwicklungen widmen. Das kann der Umfang dieses Textes an dieser Stelle jedoch nicht leisten. So wie Freud einst von der „kosmischen Kränkung“ sprach, müssen wir trotz Wissensfortschritt nun von Verstehenszersetzung reden. Das lndividuum kann nicht alles zusammenbringen, wenn das noch nicht einmal größere Gruppen schaffen, die sich in Schuld- und Feindzuweisungen gegenüberstehen wollen.   

Seite 4/5, Kompakt Zeitung Nr. 238

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