Meter 62:
Der lebendige Dom

Michael Ronshausen

Erzählungen aus der gotischen Kathedrale

 

Gottesdienstliches Gemeindeleben, hier im Hohen Domchor. Foto: Manfred Fiek

In der langen Zeit seines Bestehens war der Dom entsprechend seines Widmungszweckes immer ein Ort des Gottesdienstes und des Gebets, aber manchmal dient er – bis heute – auch anderen Zwecken. Er war bereits Kunsthalle, Konzerthaus, militärisches Lagerhaus (von Napoleons Gnaden), und zweifellos betreten ihn heute deutlich mehr Touristen als Gottesdienstbesucher. Doch unabhängig davon ist der Dom stets ein Ort des Gebets. Im Mittelalter fand das liturgische Geschehen mit Stundengebeten und Messen täglich mehrfach im Hohen Chor statt, für die Laien nur durch die Gittertüren zu beobachten. Hinzu kamen unzählige Gedenk- und Votivmessen an den 48 Altären im gesamten Dombereich. Zu hohen kirchlichen Anlässen füllte sich jedoch der Dom mit der Mehrzahl der Magdeburger Bewohnerinnen und Bewohner.


Über ein eigenes Gemeindegebiet, wie man es heute in körperschaftlicher Weise kennt, verfügte der Dom jedoch über viele Jahrhunderte nicht. Zwar umgab ihn als zentralen Ort die sogenannte Domfreiheit, und von den Bewohnern dieses Areals wurde der Dom auch als Gemeindekirche genutzt, doch die innerhalb dieser Domfreiheit lebenden Menschen waren sowieso mit dem Alltagsbetrieb des Erzbistums oder eben mit der Arbeit an und in der Kathedrale beschäftigt. Zu diesem Zweck existierte bereits in vorreformatorischer Zeit das Amt zweier Domprediger für das Volk. Wirklich geändert haben sich diese Bedingungen erst im 19. Jahrhundert, konkret nach der Auflösung des evangelischen Domkapitels im Jahr 1810. Nun repräsentierten die beiden Prediger als sogenanntes „Dom-Ministerium“ alleine die geistliche Leitung der Gemeinde.  


Ab den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts trat allerdings eine Entwicklung ein, die auch dem Gemeindeleben im Dom ein völlig neues Gesicht gab. Südlich und südwestlich des Doms verschwanden die über Jahrhunderte hinweg existierenden Festungsanlagen. Auf ihrem Areal entstand im Rahmen der wilhelminischen Stadterweiterung ein gründerzeitliches Neubaugebiet. Die Gemeinde wuchs so schnell, dass man erwog, am Hasselbachplatz eine zweite Domkirche zu errichten. Zugleich wurde der Dom auch zur Garnisonkirche erhoben – und damit zum religiösen Anlaufpunkt für mehrere tausend Militärangehörige innerhalb der Stadt. Sonntags um 9 Uhr feierte die Militärgemeinde ihren Gottesdienst im Dom, um 10.30 Uhr die Domgemeinde.


Das neue Stadtviertel war zwar großzügig angelegt, trotzdem aber auch das am dichtesten bewohnte Bevölkerungsgebiet Deutschlands – mit bürgerlichen Prachtbauten samt bis zu drei Hinterhöfen, womit die Zahl der Gemeindeglieder innerhalb weniger Jahre auf mehr als 40.000 anwuchs. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurde die Domgemeinde deshalb auf vier Dompredigerstellen und Gemeindebezirke erweitert. Verändert hat sich diese Situation erst nach dem Zweiten Weltkrieg, was allerdings nur bedingt etwas mit den erheblichen Kriegsschäden zu tun hatte. Noch bis in die frühe Nachwendezeit hinein blieb das Gemeindegebiet mehrheitlich ein Wohnviertel, aber der ideologische Kampf der DDR gegen die Kirche sorgte für viele Kirchenaustritte. Trotz der gesellschaftlichen Säkularisierung nach der Wende verdoppelte sich die Zahl der Gemeindeglieder bis 2016 wieder auf über 1.600. Seitdem sind die Zahlen rückläufig. Heute zählt die Evangelische Domgemeinde rund 1.200 Gemeindeglieder.

Seite 10, Kompakt Zeitung Nr. 244, 7.11.2023

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