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Hans Dampf in allen Gassen

Von Ralf Stabel

Wie ein Magdeburger die Schweiz erfindet. Über das abenteuerliche Leben und Wirken des Heinrich Zschokke berichtet nun auch ein Film.

Hanspeter Müller-Drossaart spielt im Film „Das abenteuerliche Leben des Heinrich Zschokke“ den gebürtigen Magdeburger. Matthias Zschokke, Nachfahre, Autor und Regisseur, hat den Film umgesetzt.

Hand aufs Herz und nicht geschwindelt: Wer kennt in Magdeburg noch Heinrich Zschokke, den Mann auf dem historischen Bild? Und dabei ist er Ehrenbürger der Stadt. Heute wäre er als Enfant terrible sicher gern gesehener Gast in jeder Talk-Show: intelligent und humorvoll, wissend und anpackend gleichermaßen.

Aussagen wie: „Ihr Herren, wollt ihr euer Volk beglücken, so macht es frei; (…) lasst das Volk selber seine Gesetzgeber aus eigener Mitte wählen, gebt dem Volk öffentliche Rechenschaft, damit es wisse, wofür es Steuern und Abgaben entrichten solle, und wie das Geld angewendet worden ist“, ließen sich auch heute trefflich diskutieren. Dabei stammt diese Forderung aus der Zeitschrift „Schweizer Bote“, die Heinrich Zschokke vor gut 200 Jahren herausgab. Er lebte von 1771 bis 1848. Kürzlich konnte man in der Berliner Akademie der Künste und im schweizerischen Aarau den neuen Film „Das abenteuerliche Leben des Heinrich Zschokke“ sehen. Darin berichtet Heinrich Zschokke, gespielt von Hanspeter Müller-Drossaart, über seine erste Erinnerung als Kind: „Da war ich drei Jahre alt. In Magdeburg. Der Komet von 1774 setzte damals viele Bürger meiner Geburtsstadt in Schrecken. Man sprach in frommer Angst von der am Himmel ausgestreckten Zornrute Gottes. Selbst mein Vater, der König meines damaligen Weltalls, war wohl nicht ganz frei von Beklommenheit. Eines Abends trat er sehr ernst hinaus auf die Gasse, den ungewöhnlichen Stern zu beschauen, und ließ mich im Zimmer beim bleichen Lampenschein allein. Ich war drei, musst du dir vorstellen. Ich bebte vor Entsetzen, zog grausend die Füße an mich auf den breiten, ledernen Lehnstuhl, und wagte kaum zu atmen. Denn ich stellte mir draußen die strahlende Zornrute vor, hingestreckt durch die Nacht über eine schaudernde Welt, und wie von der Welt dahin tausend leichenblasse Menschengesichter schweigend emporstarrten. Eine Mutter hatte ich schon damals nicht mehr. Die war in der siebenten Woche, nachdem sie mir das Leben gegeben, gestorben …“.

Der kleine Heinrich ist das elfte Kind des Tuchmachermeisters Johann Gottfried Schocke und seiner Frau Elisabeth. Mit acht Jahren verliert Heinrich auch den Vater. Nach Abschluss der Schule schließt er sich einer Schauspieltruppe an, schreibt Stücke. Dann studiert er in Frankfurt an der Oder, wird Doktor der Philosophie und schreibt nebenher auch noch Romane. 1795 hält er sich erstmalig in der Schweiz auf und wird später – nach allerlei Umtrieben und Unruhen – zum Regierungsstatthalter in verschiedenen Kantonen der Schweiz ernannt. Bis 1829 ist er politisch aktiv für eine freie, demokratische und geeinte Schweiz, schreibt wie ein Besessener und ist gleichzeitig vielfacher Familienvater. Die Schreibweise seines Familiennamens „Zschokke“ ist seine Erfindung.

Das alles ist hier extrem verkürzt wiedergegeben, denn es gäbe so unendlich viel über diesen besonderen Magdeburger Schweizer zu berichten. Aber das übernimmt nun der Film von Matthias Zschokke, Nachfahre, Autor und Regisseur, auf ganz wunderbare Weise.

Heinrich Zschokke war in vielem als Vordenker seiner Zeit voraus und durch sein Handeln mit seiner Zeit auf Augenhöhe. Als Kämpfer für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie wurde er zu seiner Zeit selbstverständlich auch ausspioniert. Mehrfach musste er seinen Aufenthaltsort fluchtartig wechseln, bis er schließlich in Aarau ein Zuhause fand.

„Was mir bei der Beschäftigung mit ihm zunehmend gefallen hat, ist seine Haltung“, so Matthias Zschokke. „Ein Ausländer, der keine Sekunde versucht, sich in die ihm fremde Gesellschaft einzuschmeicheln. Der sich ausschließlich nach seinem eigenen Kompass richtet. Ein Schriftsteller, der noch nicht einmal auf die Idee kommt, im Literaturbetrieb Fuß fassen zu wollen. Ein Politiker, der nicht taktiert. Das ist faszinierend. Vielleicht war es in jener Epoche einfacher, Stellung zu beziehen? Es gab oben und unten (die Adelsschicht und den großen Rest, zu dem er gehörte). Wer unten war, hatte keine Chance, ans Licht zu gelangen, es sei denn, er diente sich den Oberen an. Deswegen ja dann auch die Französische Revolution.“

Heinrich Zschokke war mit Heinrich von Kleist befreundet. Aus einer Wette zwischen den beiden und Ludwig Wieland entstand Kleists Komödie „Der zerbrochene Krug“. Zschokke selbst schrieb eine gleichnamige Erzählung, Wieland eine Satire zum Thema. Das Gesamtwerk von Heinrich Zschokke ist vermutlich nur wenigen Kennern bekannt. Die Biografie von Werner Ort aus dem Jahr 2013 hat immerhin 712 Seiten. Ein Werk allerdings kennen vom Namen her sicher alle: „Hans Dampf in allen Gassen“ – eine Polit-Satire. Dieser Hans Dampf, Politiker in einer Fantasie-„Republik“, wird als Prototyp für einen zur Skrupellosigkeit verkommenen Berufsstand vorgeführt: „Hans Dampf hatte aber gerade so viel und so wenig Gewissen, wie ein großer Staatsmann haben soll, der lieber eine Provinz als einen seiner Einfälle umkommen lässt, und dem gar behaglich zumute sein kann, wenn auch einem ganzen Volke bei seiner Staatsklugheit höchst übel ist.“

Heinrich Zschokke hat viel geschrieben und publiziert. Seine Werke wurden ins Englische, Französische, Italienische, Russische und in viele andere Sprachen übersetzt und machten ihn international bekannt. Goethe soll ihn genau darum beneidet haben. Zschokke hat seine Welt nicht nur interpretiert, sondern aktiv darauf hingewirkt, sie auch zu verändern. Über Zivilcourage, ein Wort und eine Haltung, die es im Deutschen offenbar nicht gibt, kann man von ihm erfahren: „Es ist gut, dass einzelne aufstehen, die mit dem herrischen Wahn des Zeitalters sich nicht vergleichen, sich ihm nicht fügen, sondern ihm offene Fehde bieten. Denn durch bloße Lehren von Kanzeln, Kathedern und Schaubühnen, durch bloße Philosopheme, durch Lobreden auf Natürlichkeit und Wahrheit, wird nichts getan.“ Rémy Charbon, der Genfer Historiker, sagte über ihn: „Kein anderer Immigrant hat die Geschicke der Schweiz in solchem Maß beeinflusst wie der Schriftsteller und Politiker Johann Heinrich Daniel Zschokke.“

In der Schweiz hat er sich maßgeblich für eine moderne Verfassung und damit für die Einigung der Eidgenossenschaft eingesetzt. Und genau an dem Tag, an dem diese Schweizerische Verfassung angenommen wird, es ist der 27. Juni 1848, stirbt Heinrich Zschokke.

Auch in der DDR wurden einige von Zschokkes „Saus- und Graußgeschichten“ verlegt. Sein „Hans Dampf“ kam erstmals 1964 in dem heute auch als Heldenstadt geehrten Leipzig heraus. Ein derartig die Freiheit und Demokratie liebender, befördernder Geist hat ansteckenden Charakter. Im Film fordert Zschokke von den Regierenden – mit dem Hinweis „wollt ihr fest auf euren Stühlen sitzen“ – die „Abschaffung von aller Willkür der Weibel (das sind Staatsbedienstete) und Vorgesetzten und hohen Obrigkeiten, damit nur das Gesetz herrsche“. Das muss doch schon damals in der DDR sehr nach Revolution und Revolte, nach Demokratie und Demontage der Verhältnisse geklungen haben.

2023 jährt sich der Todestag von Heinrich Zschokke zum 175. Mal. Es wäre doch wünschenswert, dass an diesen verdienten und berühmten Sohn der Stadt Magdeburg zumindest mit einer Film-Vorführung erinnert werden würde. Immerhin wartet die offizielle Internetseite der Landeshauptstadt gleich mit zwei Superlativen zu Zschokke auf. Er gelte „als meistgelesener und einflussreichster deutschsprachiger Autor des 19. Jahrhunderts“. Wäre es da nicht recht und billig, wenn ihm seine Heimatstadt eine wirklich schöne Erinnerungs- und Gedenkveranstaltung ausrichten würde? Vielleicht sogar die schönste? Denn von Heinrich Zschokke kann man vieles lernen, vor allen Dingen aber, wie man sich für Freiheit und Umwelt, für Menschenrechte und Demokratie einsetzt. Und was gäbe es heute Dringenderes?

Über das Vorbildhafte des Heinrich Zschokke sagt der Film-Autor: „Beim Betrachten des Films richte ich mich jedes Mal im Sessel unmerklich auf und meine mitzuerleben, wie es ist, selber zu denken und das Gedachte zu vertreten. Das ist in Vergessenheit geraten in den letzten Jahren, habe ich den Eindruck. Die meisten von uns trotten virtuellen Rattenfängern hinterher. Es ist schön, jemandem dabei zuzuschauen, wie er auf seinen eigenen Füßen steht, auf seinen eigenen Beinen geht und seinem eigenen Kopf vertraut. Und dass der Boden sich deswegen noch lange nicht vor ihm öffnet und ihn verschlingt.“

Weitere Informationen zum Film gibt es online unter: zschokkefilm.ch

Seite 4, Kompakt Zeitung Nr. 243

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