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Stadtmensch: Wiederkehr des Immergleichen

Lars Johansen

Gut 90 Jahre ist sie her, die Machtergreifung. Und immer, wenn du denkst, wir haben seitdem etwas dazugelernt, wirst du eines Besseren belehrt. Der Antisemitismus in Deutschland war nie ganz verschwunden, aber spätestens seit dem Überfall der Hamas sehe ich, dass er stärker ist, als ich es bisher jemals erlebt habe. Denn es wird relativiert: Wenn man die Verbrechen der Hamas als solche anerkennt, dann müsse man bitte auch sehen, dass Israel mit den Palästinensern auch nicht gerade fein umgegangen ist. So höre ich es allerorten. Dass man da Äpfel mit Birnen vergleicht, ist denjenigen egal, schließlich müssen wir doch ausgewogen bleiben. Und, ganz ehrlich, das kann ich nicht mehr ertragen. Denn es macht mich sprachlos und wütend. Und wenn ich hier jetzt nicht sprachlos zu sein scheine, denn ich schreibe ja, dann funktioniert das nur, weil ich versuche, diese Sprachlosigkeit in Worte zu gießen. Und mit meiner Wut muss ich mich sehr zurückhalten, denn sie hilft ja nicht. Aber ich kann und darf hier nicht auswiegen. Und wenn ich es tue, dann muss ich allerhand mehr berücksichtigen als es zurzeit getan wird.


Es ist etwa 40 Jahre her, als ich während meines Studiums in Hannover im Rahmen eines historischen Seminars zum ersten Mal einen Dokumentarfilm gesehen habe, der die Befreiung des Lagers in Bergen-Belsen zeigte. Als die britischen Truppen im März 1945 das Lager kampflos übernahmen, befreiten sie etwa 53000 Menschen, von denen bis zum Juni ungefähr 14000 Menschen an den erlittenen Entbehrungen starben. Die Filmbilder zeigten große Haufen von Leichen, die sich bei näherer Betrachtung als noch lebende Menschen erwiesen, welche nicht mehr in der Lage waren, sich zu bewegen oder die Fliegen, die auf ihnen saßen zu verscheuchen. Es waren lebende Tote, die schlimmer als in jedem Zombiefilm vegetierten, aber keine Phantasiegebilde waren, sondern wirkliche, echte, reale Lebewesen. Das war keine Tricktechnik, hinter der man sich verstecken konnte, wenn es zu schrecklich wurde.


Ich weiß noch, dass ich damals kaum hinschauen konnte. Dass ich mich geschämt habe für die Menschen, die ihnen dieses unendliche Leid zugefügt hatten. Bergen-Belsen war nicht weit entfernt von meiner Heimat- und Studienstadt. Es war nicht am anderen Ende der Welt, sondern hier. Und ich erinnere mich noch daran, wie mein Großvater, den ich einmal sehr bewundert hatte, ein paar Jahre zuvor wörtlich zu mir sagte, dass die Juden etwas an sich haben müssten, denn sonst hätte der Führer sie doch nicht alle umgebracht. Er meinte, was er sagte, und danach hatten wir nicht mehr viel miteinander zu reden. Denn was sollten wir sagen? Stolz war er noch darauf, dass er und die anderen Bewohner des kleinen Dorfes es geschafft hatten, den jüdischen Besitzer des Kaufhauses in der nächstgelegenen Kleinstadt, der nach dem Krieg zurückgekommen war, erneut zu vertreiben, indem sie sein Geschäft boykottierten. Ich weiß nicht mehr, was ich erwidert habe, ich weiß nur, dass es ab jetzt viel zu schweigen gab zwischen uns. Nach den Bildern von Bergen-Belsen hätte es vielleicht wieder Redebedarf gegeben, aber es war zu spät, es gab ihn nicht mehr. Aber es gab immer noch diesen Hass. Und mein Unverständnis dafür.


Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigte, desto weniger verstand ich. Der Antisemitismus existierte seit Jahrhunderten und die christliche Religion hatte ihn eher noch geschürt. Wenn man Luthers Einlassungen über das Judentum liest, dann sind sie erschreckende Zeugnisse eines Hasses, der bis heute nicht verschwunden ist. Dazu gesellt sich die Unkenntnis um die Praktizierung des jüdischen Glaubens. Was wissen die meisten Menschen denn schon mehr, als dass es einen Rabbi und koscheres Essen gibt? Dieses Desinteresse führt natürlich ebenfalls zu keiner Annäherung, sondern entfernt uns noch mehr voneinander.


Wenn ich jetzt sehe, dass hastig aufgemalte Davidsterne die Türen von Häusern zieren, in denen jüdische Menschen leben, dann erinnert das natürlich an die gelben Sterne, die im Dritten Reich auf der Kleidung getragen werden mussten. Es wird wieder gekennzeichnet, um auszugrenzen, um zu marginalisieren. Und vielleicht auch, um endlich vergessen zu können, was in Bergen-Belsen und all den anderen Orten geschehen ist. Schuld ist nichts Schönes und sie endlich loszuwerden, ist nur natürlich. Aber diese Schuld lässt sich eben nicht tilgen, denn sie reicht weit darüber hinaus. Und das nehmen wir den Opfern übel, dass die Schuld der Generation meiner Großeltern nicht so leicht abzutragen ist. Es geht nicht darum, dass nicht auch Israel eine Menge Fehler gemacht hat, denn das ist sicher richtig, es geht darum, wie wir uns dazu verhalten. Denn die Hamas ist eine Terrororganisation und keine demokratisch legitimierte Regierung. Ihre Taten sind schrecklich und willkürliche Terrorakte, nicht das Handeln einer regulären Armee. Nichts rechtfertigt das, was die Bilder uns zeigen. So wie nichts Bergen-Belsen rechtfertigt. Das ist die einzige Wahrheit, die hier gelten kann. Und wer das leugnet, leugnet, wenn er Deutscher ist, seine Geschichte. Geschichtslosigkeit aber löscht früher oder später die eigene Identität aus. Und Geschichtsvergessenheit führt zur Wiederholung der immergleichen Fehler. Antisemitismus führt zu nichts, außer zu Vernichtungslagern und Entmenschlichung des Gegenübers. Jeder kann „Free Palestine“ skandieren, wir sind ein freies Land, aber in dieser Situation, nach diesem Überfall, verbietet sich das von alleine. Wer es dennoch tut, relativiert diese Form von terroristischer Gewalt und heißt sie letztendlich gut. Vizekanzler Habeck hat dazu eine gerade, kluge und wichtige Rede gehalten, die sich jeder einmal anhören sollte. Vielleicht verändert sie nichts, aber sie rückt zurecht. Und das tut in Zeiten wie diesen not.

Seite 7, Kompakt Zeitung Nr. 244, 7.11.2023

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