Stadtmensch:
Irgendwas fehlt immer

Lars Johansen

Die Vorweihnachtszeit ist hereingebrochen in die dunklen Tage des Novembers. Die Welt wird mit Weihnachtslichtern erhellt und die „Rock Christmas“-CDs rotieren in den Playern der Geschäfte. Oder sind es eine Spotify-Liste oder Alexa, welche die Musikauswahl übernommen haben? Unwichtig, denn es ist der gleiche Schmodder wie jedes Jahr, der die Ohren verstopft und die Herzen eben nicht öffnet. Und wenn in Magdeburg die Lichterwelt erst wieder komplett aufgebaut ist, dann leuchtet die ganze Stadt im dauerdelirierenden Glitzerlicht der Leuchtdioden. In Lemsdorf leuchtet eine Wurst, in Ottersleben ein Otter und Wobi, der Biber der Wobau, erhellt den Platz neben dem Dommuseum. Natürlich hat das nichts mit Weihnachten zu tun, aber die Kirche hat in den letzten Jahren ohnehin nahezu die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Das christliche Abendland ist, zumindest in Deutschland und ganz sicher in Sachsen-Anhalt, Geschichte. An Weihnachten werden die Kirchen trotzdem gut gefüllt sein, weil es eben einfach dazu gehört. Denn da wird kein Glauben verlangt oder abgefragt und online macht es dort einfach keinen Spaß.


Alle machen es sich einfach. So wie der Reformationstag auch im protestantischen Kernland Halloween gewichen ist, so ist auch Weihnachten komplett verweltlicht. Dass da einmal jemand geboren wurde, klingt in den Liedern an und Krippen sind ja auch allerorten aufgebaut, aber außer einer leicht melancholischen Stimmung und dem aufgehängten Weihnachtsschmuck, der einmal im Jahr aus dem Keller geholt wird, erinnert nichts daran. Der weltliche Ärger wird ein wenig milder betrachtet im Licht der Weihnachtsbäume, und beim Duft von Glühwein, Lebkuchen und gebrannten Mandeln kommt bei diesem oder bei jener beinahe so etwas wie Toleranz auf. Aber das hält nicht lange, denn man ist ja über die Feiertage auch zusammen mit der Familie eingesperrt und die ist nicht heilig, sondern beginnt spätestens am dritten Tag zu nerven. Nicht umsonst gehen an diesen Tagen Ehen in die Brüche und Beziehungen werden Belastungsproben unterzogen, die nicht immer gut ausgehen. Aber noch ist es nicht so weit, noch kommt uns der Handel mit dem Black Friday entgegen, der sich mancherorten zur Black Week auswächst und irgendwo habe ich sogar schon den Black Month erblickt. So ist es auch kein Wunder, dass Schwarzseher Konjunktur haben. Kassandra muss ein Weihnachtsengel gewesen sein und keine trojanische Prinzessin, deren göttliche Strafe es war, dass ihr niemand glauben konnte, obwohl sie die Wahrheit kannte. Das hat sie aber wirklich nicht mit den Verschwörungstheoretikern gemein, welche trotzdem stur an ihre Wahrheit glauben und wissend nicken, wenn sie einander begegnen, ohne dass sie wirklich etwas wissen können oder wollen. Sie alle halten sich trotzdem gerne für Kassandra. Wenn sich ihre Prophezeiungen nicht erfüllt haben, dann beginnen sie mit neuen Ideen von vorne. Erinnerst du sie an ihre vorhergehenden Fehlmeldungen, dann schauen sie dich merkwürdig an, murmeln von Missverständnissen und erklären, dass es irgendwann doch noch so kommen müsse. Aber auch sie sind weihnachtlich milder als sonst gestimmt, jedenfalls bis Silvester. Ab dann darf wieder schwarzgesehen werden.

 

Aber tatsächlich fehlt etwas, nicht nur die 60 Milliarden Euro, welche das Bundesverfassungsgericht mal eben aus dem Haushalt der Bundesregierung entfernt hat, sondern auch der ganz große Auftrieb in den Geschäften. Langsam erfüllt sich der Fluch von Corona und vielleicht auch der langen Tunnelbauzeit und der vielen Baustellen. Immer weniger richtige Geschäfte existieren noch in der Innenstadt von Magdeburg. In die Ladenlokale ziehen Versicherungen oder andere Dienstleister ein, die einen Stadtbummel so viel langweiliger als noch vor fünf Jahren erscheinen lassen. Denn es gibt ja immer weniger zu sehen. Keine Ladenzeilen, sondern immer wieder inhaltslose Schaufenster. Wenn es nicht den leuchtenden Weihnachtsschmuck gäbe, dann würde die Dunkelheit noch mehr auffallen. Jetzt, wo er noch nicht hängt, kann man es manchmal schon ganz gut sehen. Das liegt nicht nur daran, dass Strom gespart wird, sondern vor allem daran, dass es kaum noch etwas zu beleuchten gibt. Und das stellt ein Problem dar, für das im Moment niemand eine längerfristige Lösung hat. Pop-up-Stores können nur für kurze Zeit die Lücken füllen, welche immer unübersehbarer werden. Das Sterben der Innenstädte ist längst keine Kassandra-Weissagung mehr, sondern schon bittere Realität. Ich kenne immer mehr Menschen, für die ein Einkauf in der Stadt nicht mehr infrage kommt. Auf dem heimischen Sofa, dick eingemummelt, wird der Fernseher ab und das Internet angestellt. Und dann findet der Bummel virtuell statt. In ein paar Jahren wird es vielleicht eine Brille sein, die in dieser virtuellen Realität einen ebensolchen Bummel anbietet, der sich anfühlt wie die vergangene Realität, nur ohne Kälte, Nässe und drängelnde Menschen. Den Glühwein hat man selber angerichtet und das Essen kommt vom Bringdienst oder man kocht sich selber etwas Kleines. Wenn die Mehrwertsteuer für die Gastronomie im kommenden Jahr wieder angepasst wird, dann werden auch dort ein paar mehr Läden verschwinden, denn schon jetzt schließen sie unter der Woche früh. Wer um 21 Uhr durch den Breiten Weg zu Magdeburg geht, weiß, wovon ich spreche. In den kleineren Städten sieht es noch dunkler aus. Diese Begegnungsorte, die nicht virtuell sind, werden irgendwann sehr fehlen und die Einsamkeit wird noch größer. Denn das Netz ist nur ein Surrogat, keine echte Essenz. Die geht langsam, aber sicher verloren. Und es fällt mir schwer, mich daran zu gewöhnen. Aber vielleicht bin ich ja auch nur ein Verschwörungstheoretiker und in Wahrheit wird alles gut.

Seite 7, Kompakt Zeitung Nr. 245, 22. November 2023

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