Stadtmensch:
Das Unsagbare zeigen
Lars Johansen
Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich in dieser Kolumne erneut mit dem Thema Film beschäftige. Aber auch hier weist es über den Film selbst hinaus und versucht, sich mit grundsätzlichen gesellschaftlichen Themen zu beschäftigen. Ich hatte vor einiger Zeit ein Erlebnis im Kino, das ich so nur selten habe. Denn ich verließ den Kinosaal sehr aufgerüttelt. Und das war das Werk von „The Zone of Interest“, einem Film, der bei der diesjährigen Oscarverleihung mit dem Preis für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde und dazu auch noch für den besten Ton. Beide Entscheidungen sind genau richtig gewesen. Und es ist ein Moment, der es verdient, festgehalten zu werden, denn endlich ist der postdramatische Film im Mainstream angekommen. Ich weiß, das verkürzt ein wenig die Realität, aber ich werde versuchen, auch das zu erklären.
Der Regisseur Jonathan Glazer dreht nur sehr selten Filme, eben weil er sie sehr akribisch vorbereitet und vor allem auf die Tonmischung ungeheuren Wert legt. Das bedeutet keinesfalls, dass er das Bild vernachlässigt, aber es erklärt die beklemmende Wirkung von „The Zone of Interest“. Denn das Grauen von Auschwitz wird nicht gezeigt, es ist nahezu ausschließlich auf der Tonspur präsent, aber gerade dadurch gelingt es, ohne die mittlerweile fast schon abgenutzten Bilder aus den Todeslagern, für die Auseinandersetzung mit dem Massenmord auf eine erschreckende Art zu sensibilisieren. Das liegt natürlich auch an den beiden Hauptdarstellern. Die (für eine andere Rolle) oscarnominierte Sandra Hüller ist da genauso zu nennen wie der gebürtige Magdeburger Christian Friedel. Gerade dieser, der mit seinem grundsätzlich freundlichen und offenen Gesicht mit eher weichen Zügen scheinbar überhaupt nicht zu der Rolle passt, verleiht seiner Figur des Lagerkommandanten eine umso erschreckendere Ausstrahlung. Wenn man seine Darstellung mit der von Götz George, der eine ebenfalls an Rudolf Höß, den SS-Kommandanten des KZs Auschwitz, angelehnte Figur in dem 1977 entstandenen Film „Aus einem deutschen Leben“ vergleicht, dann kann man deutliche Unterschiede entdecken. George spielt hervorragend, aber man merkt, dass er seine Familiengeschichte mitspielt, überlebensgroß ist sein Vater Heinrich George fast stofflich anwesend. Er arbeitet sich an dieser Vaterfigur ab und so wird sein Höß nicht das, was Hannah Arendt „Die Banalität des Bösen“ nannte. Christian Friedel dagegen ist genau das, er spielt nicht, er ist diese Person. Er isst, trinkt, raucht, reitet und er liebt nur seine Tiere. Die Liebeserklärung an sein Pferd ist die, welche seine Frau von ihm erwartet, aber nicht einmal bekommt. Sie kümmert sich um ihr „kleines Paradies“, das im Schatten der Verbrennungsöfen von Auschwitz entsteht. Es gibt für die Kinder sogar ein kleines Schwimmbecken mit einer Rutsche. Sie verdrängt alles, was nicht in ihre Sicht hineinpasst, und wenn ihre Mutter zu Besuch kommt, die alles bewundert, aber dann am Abend in ihrem Zimmer den Lärm und das Feuer aus dem direkt nebenan liegenden Lager so unerträglich findet, dass sie überstürzt abreist und nur eine Notiz für ihre Tochter zurücklässt, dann ist das wunderbar erzählt, weil es so viel weglässt. Wir erfahren nichts Genaues und doch ist alles klar.
Der Umgang mit dem Personal lässt immer durchklingen, dass es auch im Lager enden könnte, ohne dass es, außer an einer Stelle, ausgesprochen werden muss. Nichts muss gezeigt werden, weil wir ja wissen, was dort geschehen ist. Und doch gibt es eine Szene, die in Oranienburg spielt, in der Friedel in einen dunklen Gang hineinschaut, nachdem er sich vorher im Treppenhaus übergeben hat. Und auf einmal sehen wir Dokumentaraufnahmen aus dem Auschwitz von heute, Reinigungs- und Reparaturarbeiten in den Räumen, die mittlerweile musealen Charakter haben. Es ist kurz vor Schluss ein kurzer Moment, in dem die Wirklichkeit Einzug hält. Denn der Film behauptet an keiner Stelle, die Wirklichkeit abzubilden, er zeigt einen möglichen Alltag an einem Nichtort, also eine Utopie. Irgendwann wird den Kindern aus einem Märchen vorgelesen und es handelt sich dabei um „Hänsel und Gretel“, das auf einmal eine sehr erschreckende Dimension bekommt. Denn auch hier wird am Ende ein Mensch verbrannt, die „böse“ Hexe. Die Kinder aber wurden zuvor vom eigenen Vater im Wald ausgesetzt, der ihnen erklärt, dass die Mutter ihm den Befehl dazu gegeben habe und er eigentlich nichts dafür könne. Man kann es als Vatermärchen lesen, in dem die Frauen böse sind, Hexen und böse Mütter, und Schuld an sie delegiert wird. Glazer überlässt uns die Interpretation. Er zeigt nur das, was Alltag gewesen sein könnte.
Mittlerweile gibt es tatsächlich ein paar Kritiker, die ihm das vorwerfen, weil sie die Darstellung des Grauens vermissen und daraus ableiten mögen, dass er dieses leugnet. Diese Interpretation ist so perfide wie falsch, denn nur durch das Aussparen gelingt es ihm, unseren Blick auf die scheinbaren Fehlstellen zu leiten. Und das ist auch der Kern des Postdramatischen hier, denn das, was als bekannt vorausgesetzt werden kann, muss nicht andauernd wiederholt werden. Glazer hatte sich in der Dankesrede bei der Oscarverleihung für einige Menschen missverständlich zum aktuellen Konflikt im Gazastreifen geäußert. Und so wurde der Film zu einer Projektionsfläche für eine Kritik an ihm. Ein paar Worte aber, in so einem Moment, sollten nicht zu Fehlinterpretationen führen. Denn er bestreitet nichts, er muss es nicht, denn er und wir wissen, dass geschehen ist, was geschehen ist. Und treffender hat es für mich noch kein Spielfilm zu fassen vermocht. Darum möchte ich mit einem berühmten Wittgenstein-Zitat enden: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Denn dieser Film schweigt so beredt, dass man einfach nicht weghören kann.
Seite 7, Kompakt Zeitung Nr. 252