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Magdeburger Gesichter:
Ein stiller, leiser Strom

Karlheinz Kärgling

Am 3. September 1795 erreichte Heinrich Zschokke Schaffhausen, den alten Schifferflecken am Hochrhein. Angesichts der Gebirge und Wasserfälle, der üppigen Pflanzenwelt und grünen Ströme schien ihm, als schwebte er „in einer verklärten Welt“. Anfang Mai war der Vogel flügge und hatte den Zug gen Süden begonnen, wollte Paris erleben und Rom sehen, dann in die Schweiz, die „alte Eidgenossenschaft“, das „Land der Freiheit“. Zschokke suchte Abstand vom Dasein als Privatdozent in Frankfurt/Oder, hatte allerdings in stets gefüllten Hörsälen doziert und Empfehlungen zur Anstellung als ordentlicher Professor vorzuweisen.


Aber wegen „revolutionärer Gesinnung“ war er dafür nicht vorgesehen von Minister Woellner, dem „hinterlistigen und intriganten Pfaffen“, wie Seine Majestät Friedrich verlauten ließ. Sich selbst „gehorsamst“ anempfehlen, das war seine Sache nicht. Von Kindesbeinen an blieb er häufig auf sich gestellt. Der Vater, Gottfried Zschokke aus Oschatz, Altmeister und Oberältester der Tuchmacher-Zunft in Magdeburg, starb schon 1779, hinterließ seinem Jüngsten und vier Geschwistern aus Spekulationen mit der preußischen Armee ein bisschen mehr als das Nötige zum Leben. Die Mutter, Dorothea Elisabeth, geborene Jordan, aus Magdeburg, starb Wochen nach der Geburt ihres neunten Kindes, das nach dem Willen des Vaters „für die Wissenschaft“ erzogen werden sollte. Der Unterricht am Pädagogium des Liebfrauenklosters endete jedoch nach der Sexta, denn der Knabe sei „unfähig zur Erlernung höherer Wissenschaft“. Hernach kam er an der reformierten Schule in die Hände des alten Kantors Capsius und eines betagten, aber mit Fantasie begabten, ausgemusterten Matrosen, der bei der Schwester Dienst tat. Jener lehrte ihn die alten Sprachen, dieser das Seemannslatein und entzündete seine Einbildungskraft mit Geschichten von Robinson Crusoe oder von Seefahrern auf der Insel Felsenstein.


Dermaßen bereichert, wechselte er ins Altstadtgymnasium zu Prorektor Neide, stieg rasch um einige Stufen und fand Unterkunft beim emeritierten Rektor Reichard, der Geister- und Gespenstergeschichten sammelte. In dessen Bibliothek las und exzerpierte er Spinoza und Swedenborg, Albertus Magnus und Plutarch, Brockes, Ossian, Shakespeare und Schiller, entwarf und verwarf eigene Verse und Prosa. Nach einem harmlosen Schülerstreich, dessen Urheber er Neide verschwieg, entschwand Zschokke im kalten Winter 1788 zu Pferde nach Mecklenburg, wollte sich durch die Welt schlagen und wurde Hauslehrer in Schwerin beim Hofdrucker Bärensprung. Monate später schloss er sich Mimen und Gauklern an, schrieb „Saus- und Graus-Stücke“, war heute hier und morgen in Prenzlau oder Landsberg. Schließlich begann er Ostern 1790 an der Universität Frankfurt/Oder ein „enzyklopädisches“ Studium, trieb Philosophie, Theologie, Naturrecht, Jura, Geschichte und Ästhetik. Schillers „Räuber“ gaben ihm schließlich Anregung zu seinem Roman „Abellino, der große Bandit“ (gedruckt 1794), der als Trauerspiel Furore machte. Glänzend bestandene Examen verliehen ihm die Kraft zum Sturm auf den Parnass.


Nach Habilitationen in Philosophie und Theologie gehörte der junge Doktor zu den noch wenigen Privatdozenten an preußischen Universitäten. Eine Auszeit führte ihn in den Harz und die Gärten von Wörlitz; zu den Herrnhutern in Gnadau und in die Bibliotheca Augusta Wolfenbüttel. Gastpredigten in Magdeburg fanden den Beifall der Gemeinden und des gewaltigen Kanzelredners Ribbeck, seine Bewerbung für St. Katharinen wurde trotzdem abgelehnt.


So kehrte er zurück an die Oderuniversität. Neben den Kollegien zur Welt- und Kirchengeschichte hatte er Muße zum Fabulieren und für Streifzüge ins Forstwesen oder in die Zeitgeschichte. Nach drei Jahren packte ihn abermals das Fernweh. Er stieg in den Postwagen Richtung Berlin, Leipzig und immer weiter nach Süden … In Schaffhausen war die Missstimmung wie weggeblasen. Er durchwanderte Helvetien, doch schon Zürich und Bern nahmen ihm die „republikanische Glückseligkeit“, dafür entschädigten die Begegnungen mit Nägeli, Hirzel und Pestalozzi.


Auf seiner Reise 1796 nach Paris mit dem Schriftsteller Ernst Oelsner schockierte ihn der Kontrast zwischen „la belle und la vieille France“. Auf halbem Wege nach Rom hielt ihn der Zufall in der Lehr- und Erziehungsanstalt Reichenau fest, deren Eigner, der Jurist und Politiker Johann B. von Tscharner, Zschokke mit einem günstigen Pachtvertrag und 800 Talern Gehalt als Erzieher, Lehrer und Prediger anwarb. Nicht nur die Anzahl der Zöglinge stieg beständig, ebenso sein Renommee als Verfasser der „Historie der drei Bünde im hohen Rätien“ und eines Gratis-Volksschulbuches.


Aber kaum ein Jahr verging, bis die Reichenau in den Parteihader zwischen Aristokraten und Patrioten geriet. So endete das Kapitel 1798 mit der Flucht nach Aarau. Vor der Rückkehr ins Privatleben nach dem Frieden von Lüneville und der neuen Verfassung war er bevollmächtigter Regierungskommissar in verschiedenen Kantonen und Statthalter der Revolutionsregierung im Kanton Basel. Er organisierte die Armenversorgung, stritt und schrieb für eine bessere Jugendbildung oder den allgemeinen Wohlstand durch die Ansiedelung neuer Gewerbe.


Nach den stürmischen Jahren wurde er Mitglied des Großen Rates, fand sich jedoch als einer der Wegbereiter des schweizerischen Bundesstaates oft zwischen den Fronten, dass die Sehnsucht wuchs, nur für die „Kunst des Schönen zu atmen“. Gelegenheit dazu gaben Wanderungen durch das Mittelland im poetischen Wettstreit mit Geßner, Ludwig  Wieland und Kleist 1801/02, aus dem Kleists Lustspiel „Der zerbrochene Krug“ hervorging. Für die „Historischen Denkwürdigkeiten der helvetischen Staatsumwälzung“ (1803-1805) nutzte Zschokke Augenzeugenberichte und diplomatische Akten.


Zeitgleich entwarf er ein Forstgesetz für den Kanton Aargau, verständigte sich mit Fürstbischof Carl von Dalberg über das Bergbauwesen und baute nach der Hochzeit mit der Pfarrerstochter Anna Elisa Rüsperli 1805 „die beste aller Republiken“ zwischen den eigenen vier Wänden. Sein literarisches Leben wurde „ein stiller, leiser Strom“, dennoch war er bis 1842 Herausgeber und Chefredakteur des „Schweizerboten“, Kirchenrat und Schulrat im Aargau, 1810/1811 Mitbegründer der „Gesellschaft für vaterländische Kultur“ und Gründer der Freimaurerloge in Aarau. Außerdem entstanden historische Aufsätze, Novellen und Erzählungen sowie die Geschichte Bayerns in drei Bänden (1813–1818). Sein „Tusculum“ nahe Aarau, die „Blumenhalde“ auf dem Hungerberg, gab ihm nun das ersehnte Refugium, den zwölf Söhnen und seiner Tochter aber eine ländliche Idylle mit Ziegen, Schafen, Kaninchen, Hühnern und Tauben.


Für seine „großen Verdienste im […] Kampf für Wahrheit und Recht“ in höchst bewegter Zeit verlieh die Stadt Magdeburg ihrem Sohn am 14. März 1830 die Ehrenbürgerschaft. Zschokke starb am 27. Juni 1848. Das Gemälde (vermutlich) von Julius Schrader zeigt Zschokke nach halbrechts gewendet im Gehrock und weißen Hemd mit schwarzer Halsbinde.


Das Kulturhistorische Museum Magdeburg erinnerte 2021 an Magdeburger Gesichter des 19. Jahrhunderts. Die Porträts der Sonderausstellung sind weiterhin in der Kompakt Zeitung zu finden.

 

Seite 10, Kompakt Zeitung Nr. 253, 10. April 2024

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