Stadtmensch:
Hundekot und Pressefreiheit
Lars Johansen
Bei einer Ballettpremiere in Hannover verschmierte der dortige Ballettdirektor einen Beutel mit Hundekot direkt im Gesicht einer Kritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Diese hatte über sein kurze Zeit zuvor anderenorts produziertes Ballett eine sehr negative Kritik verfasst, und so fühlte er sich zum einen im Recht und zum anderen bemüßigt, seiner Kritik an der Kritik rabiat Ausdruck zu verleihen. Das ist kreuzdumm und durch nichts zu entschuldigen. Stress haben wir alle einmal, und so eine Reaktion ist nur im Zoo erlaubt, wo aber auf großen Schildern warnend darauf hingewiesen wird: „Vorsicht, Affen werfen mit Kot!“ Ein eingesperrter Affe, der sich den ganzen Tag beglotzen lassen muss, hat aber auch das Recht darauf, denn viele andere Möglichkeiten zur Artikulation seines Missfallens hat er nicht.
Der Ballettdirektor jedenfalls war schon ein paar Tage später Geschichte, man hat sich in gegenseitigem Einvernehmen getrennt und kam so um eine fristlose Kündigung herum. Zivilrechtliche Schritte werden folgen. Für den Choreographen dürfte die Karriere beendet sein, denn niemand stellt einen nervenschwachen, unberechenbaren Menschen ein, der sogar noch in seiner ersten Entschuldigung die Kritikerin erneut, wenn auch diesmal nur verbal angriff. Ob es sich bei seinem Angriff um eine geplante oder wirklich eine spontane Reaktion handelte, darüber wurde viel spekuliert. Da er seinen Hund mit ins Theater nehmen darf, muss das Mitführen der Tüte mit dessen Kot kein Vorsatz gewesen sein. Aber eigentlich ist das auch gleichgültig, denn eine ekelhafte Attacke wird nicht besser, wenn sie ungeplant stattfindet.
Doch haben wir es hier mit einem Angriff auf die Pressefreiheit zu tun, wie vielerorts geschrieben wurde? Und hat sich der Umgangston zwischen Kunst und Kritik in den letzten Jahren verschärft? Beides mag ich nicht ganz so stehen lassen, denn das stimmt so nicht. Die Pressefreiheit ist nicht gefährdet, nur weil ein Choleriker mit Kinski-Attitüde glaubt, seine Art nonverbaler Kommunikation sei gerechtfertigt, weil er sich persönlich angegriffen fühlt. Die Kritikerin will ihn indes gar nicht erkannt haben, was ich ihr nicht so recht glauben mag. So wie sie die Kritik über ihn geschrieben hat, ist sie mit seiner Arbeit und damit auch mit seiner Person einigermaßen vertraut. Sollte sie ihn also wirklich nicht kennen, dann kennt sie vielleicht seine Arbeit nicht gut und ihre Kritik derselben entbehrte ihrer Grundlage. Noch einmal, dass soll keine Entschuldigung für sein Auftreten werden, denn das bleibt unentschuldbar.
Dass ihr Verhalten in dieser Angelegenheit nicht ganz tadellos ist, mag man auch auf den Schock über das Geschehene zurückführen. Die Kritik, um die es ging, ist gewiss unfreundlich und persönlich direkt geschrieben. Darüber muss man als Mensch der Öffentlichkeit stehen, zumal, wenn man von Geldern der öffentlichen Hand subventioniert ist. Letztlich stellt es nur eine Meinung von vielen dar. Deshalb sollte man die Reaktion als das bewerten, was sie ist, nämlich als einzelne Äußerung, die nicht dazu taugt, als allgemeiner Angriff auf die Pressefreiheit instrumentalisiert zu werden. Auch hat sich der Umgangston hier nicht übermäßig verschärft. Dass er sich allgemein eher verändert hat, das ist gewiss zu konstatieren.
Wer ein wenig in den sozialen Medien unterwegs ist, wird es bemerkt haben. Man ist allgemein empfindlicher geworden und begreift vieles als persönlich, was nicht so gemeint ist. Im Theater- und Kulturbereich aber gibt es diese Ausbrüche von nonverbaler Gewalt schon viel länger. Wenn man sich mit der Wiener Kaffeehauskultur zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts beschäftigt, kommt man nicht umhin, zu bemerken, dass es dort fast schon zum guten Ton gehörte, Konflikte sehr direkt auszutragen. Der Kritiker, meist männlich, welcher im Kaffeehaus – und jeder wusste, in welchem – saß, konnte sich darauf verlassen, dass Intendanten, Regisseure oder Darstellerinnen direkt nach dem Lesen der Kritik dorthin kamen, theatralisch hineinstürmten und ihm dann eine Ohrfeige verpassten oder ihm seinen Kaffee ins Gesicht schütteten. Das gehörte zum Betrieb dazu und produzierte werbeträchtige Schlagzeilen. Feindschaften wurden gepflegt und die spitze Feder schmerzte mehr und nachhaltiger als die kurze und schmerzhafte Reaktion der Kritisierten. Sie konnte durchaus dazu beitragen, die Besucherzahlen zu erhöhen. Schließlich wollten viele wissen, was da so kräftig verrissen wurde. Ein gut geschriebener Verriss funktionierte besser als ein windelweiches Lob und daran hat sich bis heute nicht sehr viel geändert.
Also alles wie immer und alles gut? Nicht ganz, denn Kot im Gesicht stellt schon eine Eskalationsstufe dar, die weit über das normale Maß hinausgeht. Aber vielleicht kann man das auch mit Corona erklären. Ein paar Jahre war eine choreografische Arbeit nicht möglich gewesen. Erst langsam fährt der Kulturbetrieb seit dem vergangenen Jahr wieder hoch. Das künstlerische Personal muss wieder zurück in die Spur finden und da erscheint, offen gestanden, eine persönlich gehaltene extrem negative Kritik eher kontraproduktiv. Verstehen Sie mich nicht falsch, das macht die Reaktion nicht besser, aber es erklärt sie ein wenig. Mühsam ertastet sich die Kultur den Weg zurück an die Öffentlichkeit und da wäre eine positiv begleitende Kritik ein wenig hilfreicher gewesen. Ich mag der Kritikerin nicht vorschreiben, was sie zu denken und zu schreiben hat, aber ich möchte eine eher positive Grundhaltung erwarten. Jedenfalls in diesen Zeiten, welche für niemanden leicht sind. So oder so, der Kultur wurde damit ein Bärendienst erwiesen. Denn mit ihr hat das eigentlich nichts zu tun. Und doch fällt es auf sie zurück.
Seite 7, Kompakt Zeitung Nr. 227