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Römers Reich
Nichtverstehen verstehen

Axel Römer

Das geflügelte Wort: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, wird dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschrieben. Heute scheint es, dass diese Einsicht über die Möglichkeiten des Wissens auf dem Altar eines allwissenden Anspruchs geopfert wurde. „Hört auf die Wissenschaft!“ Solche Mahnungen hört man immer wieder. Zur Verteidigung von Entscheidungen während der Corona-Pandemie hatte die Forderung Hochkonjunktur. Auch für Klimapolitik wird oft genug die Wissenschaft angerufen, dass man ihr folgen solle.

 
Den Einfluss von wissenschaftlichem Forschungsstand auf eine politische Agenda und die Wechselwirkung von politischen Forderungen wiederum auf die Wissenschaftsförderung kann ich hier nicht umfassend betrachten. Mir geht es eher um die kleinen Paradoxien des Alltags. Schließlich vollziehen sich auf dieser Ebene die Auseinandersetzungen über relevante Themen. Und wie es unserem Argumentationsmechanismus eigen ist, versucht eine Person eine andere von der Richtigkeit seiner Meinung zu überzeugen. Kleiner Hinweis: Da wir alle selten an irgendwelchen Forschungen teilgenommen haben oder bei wichtigen Entdeckungen dabei waren, reden wir nur das, was andere vor uns schon gesagt oder aufgeschrieben haben, die in der Regel selbst nicht Quelle des Wissens waren, sondern ebenfalls nur Vermittler. Schätzungen gehen davon aus, dass sich das Weltwissen etwa alle fünf bis zwölf Jahre verdoppelt. Die Rate soll sich gar noch beschleunigen. Noch eine Zahl: Mitte des 17. Jahrhunderts wird die Anzahl von Menschen mit wissenschaftlich-technischer Ausbildung auf etwa eine Million geschätzt. Bis 1950 sollen es rund 10 Millionen gewesen sein. Im Jahr 2000 schon 100 Millionen. Wahrscheinlich müssen wir nach über 20 Jahren noch mal mehrere Millionen oben draufpacken. Was meinen Sie, liebe Leserinnen und Leser, welches Individuum, das jeweils mit einem einzelnen Hirn ausgestattet ist, kann diese Informationsflut angemessen verarbeiten. Ich würde sagen niemand. Nicht das klügste Genie wird die ausufernde menschliche Erkenntniswelt in alle seine Überlegungen einbeziehen können.


Um überhaupt ein wenig Verständnis aus der Wissensexplosion ziehen zu können, müssen wir alle enorm abstrahieren. Wobei sich dann jede Abstraktion von der möglichen Erkenntnistiefe noch weiter entfernt. Ich möchte sie ein wenig dafür sensibilisieren, dass Sie sich in Gesprächen oder in Online-Foren nicht von sogenannten Studienergebnissen erschlagen lassen und werfen Sie selbst nicht mit solchen um sich. Die zunehmende Veröffentlichungsflut aus der Wissenschaft führt uns heute viel näher an die sokratische Einsicht übers Nichtwissen.


Problematisch bleibt nur, dass sich einige für schlauer halten als andere, weil sie glauben, häufiger über etwas Bestimmtes gelesen oder gehört zu haben. Aber das kann wiederum nur ein winziger Bruchteil vom Ganzen sein. Vielleicht verstehen Sie jetzt ein wenig mehr, warum wir anscheinend nichts richtig verstehen. Wächst das angebliche Verstehen, wächst zugleich das Nichtverstehen. Paradox, oder?

Seite 3, Kompakt Zeitung Nr. 228

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