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… oder spielt ihr noch?

Von Rudi Bartlitz

Auf deutschen Fußballfeldern kann es künftig länger dauern. Bei der Nachspielzeit wird kräftig draufgepackt. In der 2. Bundesliga waren es beim Auftakt im Schnitt schon mehr als acht Minuten.

„Das geht alles von ihrer Zeit ab.“ Diese Mahnung, mit der einst Comedy-Altmeister Piet Klocke von der Bühne herunter drohte, scheint sich im derzeitigen Fußball langsam, aber sicher in ihr Gegenteil zu verkehren. Und zwar spürbar. Was 2022 bei der Wüsten-Weihnachts-Weltmeisterschaft in Katar vielen erstmals so richtig bewusst, damals von den meisten Anhängern noch als ein vielleicht einmaliger Ausrutscher gewertet wurde – nämlich die ellenlangen Nachspielzeiten von teils über zehn Minuten –, das wird künftig immer mehr um sich greifen. Mit dem Resultat, dass in Zukunft eine Kicker-Partie, die laut Reglement normalerweise 90 Minuten währen soll, nicht schon, wie in der Vergangenheit häufig geschehen, nach einer effektiven Spielzeit von 70 bis 75 Minuten abgepfiffen wird; in Extremfällen waren es sogar noch weniger. Strenggenommen, so errechnete die spanische Sportzeitung „Marca“ einmal, werde bei einer Fußballpartie durchschnittlich nur etwa 50 Minuten gespielt.


Die Idee hinter all dem: Es soll auf dem Feld weniger Zeit durch vorgetäuschte Verletzungen geschunden und seltener lamentiert werden. Eine Idee, die in jedem Fall gutzuheißen ist. Verabschieden müssten sich die Fans (zumindest die deutschen) dann allerdings von einer alten Sepp-Herberger-Weisheit, wonach der Ball rund ist und ein Spiel 90 Minuten dauert. Da-raus könnten künftig durchaus 100 und mehr werden.


Vorreiter dieser Entwicklung ist nicht nur der Weltverband Fifa, wie auch bei der Frauen-WM in Australien und Neuseeland zu beobachten war, sondern ebenso das Mutterland des Fußballs selbst. Der englische Verband ordnete im August an, künftig die Zeit, die während Spielunterbrechungen verloren geht, konsequenter nachspielen zu lassen. Was dazu führt, dass die Halbzeiten oftmals deutlich länger als 50 Minuten dauern werden. Nachspielzeiten von zehn Minuten und mehr werden keine Seltenheit mehr sein. Zudem drohen auf der Insel sofort Gelbe Karten, wenn mehrere Spieler den Schiedsrichter umringen, und jeder, der nach einem Freistoßpfiff gegen die eigene Mannschaft noch den Ball berührt, wird verwarnt. Es wird sich zeigen, welche dieser Maßnahmen die gewünschte Wirkung entfalten.


Die Idee, die Nachspielzeiten auszuweiten, dürfte in jedem Fall im Interesse der Mehrheit des Publikums liegen. FIFA-Schiedsrichter-Boss Pierluigi Collina (Italien) formulierte es so: „Wir wollen nicht, dass es in einer Halbzeit nur 42 oder 43 Minuten aktives Spiel gibt, das ist nicht akzeptabel. Die Leute wollen Fußball sehen, die Leute wollen mehr Fußball sehen.“ Andere, radikalere Vorstellungen als jene, die Nachspielzeit auszudehnen, waren in den zurückliegenden Jahrzehnten zwar immer wieder aufgeploppt, aber selbst von der FIFA verworfen worden. Etwa die, wie im Handball nur die effektive Zeit zu werten. Also die Uhr anzuhalten, wenn der Ball aus dem Spiel ist.


Gerade in Zeiten, in denen es heißt, der Fußball verliere sein junges Publikum, liegt in den jetzt ergriffenen Maßnahmen eine große Chance zur Modernisierung. Aus Sicht des im Bildergewitter von Tiktok und Instagram sozialisierten U-30-Publikums passiert ja bekanntlich viel zu wenig während neunzig Minuten TV-Fußball, Quoten sinken, die Vermarktung von Abos wird komplizierter. 15-Minuten-Nachspieldramen könnten da bei so manchem ein Wunder bewirken, Millionen Menschen werden sich noch lange an eine wilde Show erinnern. Die Minuten in der Nachspielzeit sind intensiv und aufregend, zumindest wenn es eng zugeht. Wie geschehen in der jüngsten Zweitliga-Begegnung Elversberg gegen Rostock. Hansas Juan José Perea verwandelte durch Tore in der zehnten und dreizehnten Minute der Nachspielzeit einen 0:1-Rückstand gegen Elversberg noch in einen Sieg und erschuf einen lokalen Fußballmoment für die Ewigkeit. Je öfter es derartige Zuschläge gibt, umso häufiger entsteht jener Zauber, der im US-Sport „Crunchtime“ heißt und der sich nicht nur gut vermarkten lässt, sondern auch den Genuss steigert.


So stürmisch die Entwicklung auch scheint, Deutschland hält sich da noch (oder: wieder einmal) dezent zurück. Eine kleine Anpassung, soviel sickerte nach der jüngsten Zusammenkunft der Referees durch, wird es bei der Berechnung der Nachspielzeiten geben. Explizit den Torjubel will man genauer aufs Korn nehmen. Gerade wenn viele Treffer fallen, so heißt es, werde durch „übertriebenen oder langanhaltenden Torjubel“ sehr viel Zeit vergeudet. Das soll mit der Nachspielzeit „verrechnet“ werden. Erste Ergebnisse liegen nach den ersten beiden Zweitliga-Spieltagen bereits vor: Durchschnittlich achteinhalb Minuten Aufschlag pro Partie gab es dort. Aber wie gesagt: So weit wie die Engländer wollen die Deutschen nicht gehen. Auf die Frage, ob es nicht sinnvoll sei, absichtliche Verzögerungen in Spielunterbrechungen – wie jetzt in der Premier League – konsequent mit Gelben Karten zu sanktionieren, sagte FIFA-Referee Felix Zwayer der „FAZ“: „Dafür müssten alle an einem Strang ziehen. Aber das passiert im Fußball halt nicht.“


Interessant verspricht es auch zu werden, zu beobachten, welche taktischen Erwägungen sich aus der neuen Konstellation ergeben, wie die Trainer darauf reagieren. Denn eine Nachspielzeit hat natürlich Konsequenzen: Man muss damit rechnen, dass ein eventueller Vorsprung länger verteidigt werden muss, und andererseits wissen die Angreifer, dass sie noch die eine oder andere Chance herausspielen können, weil sie die Zeit dafür haben.


So fair es klingt, vergeudete Zeit nachspielen zu lassen, die Folgen für Profis wurden bisher kaum beachtet. Die Spielergewerkschaft FIFPRO hat die Nachspielzeiten der Weltmeisterschaften 2018 und 2022, als erstmals explizit verlorene Zeit nachgeholt werden sollte, verglichen. In Russland betrug die durchschnittliche Zeit, die zu den regulären 90 Minuten kam, 7,3 Minuten, in Katar schon 11,6 – gut vier Minuten mehr. Kann das ein Hochleistungssportler nicht leisten? Kann er, aber das Beispiel zeigt das ewige Steigerungsprinzip – und eine Hochrechnung den Unterschied zwischen Turnier und Vereinssaison. Bei der WM spielten die Franzosen so insgesamt eine halbe Stunde länger. Im Klub summieren sich die kleinen Extrazeiten im Jahr etwa auf drei zusätzliche Partien à 90 Minuten.


Das ist nicht zu unterschätzen, stellt indes aber gar nicht die Belastungsspitze dar. Die liegt woanders – und ist lange bekannt. Dieser Sommer war für viele Nationalspieler der letzte vor 2027, in dem kein Turnier anstand. Der Spielkalender platzt seit Langem aus allen Nähten. Die Beschwerden der Protagonisten blieben unerhört. Im Gegenteil. 2024 starten Champions League, Europa League und Conference League mit mehr Mannschaften und Spielen. 2025 startet die Klub-Weltmeisterschaft mit mehr Mannschaften und Spielen, während das alte Format gar nicht eingestellt wird, sondern leicht modifiziert weiterläuft. 2026 startet die Weltmeisterschaft mit mehr Mannschaften und Spielen. Der Ball rollt ab sofort quasi durchgehend – über Jahre.

Seite 47, Kompakt Zeitung Nr. 239

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