Die Spektakel-Liga
Rudi Bartlitz
Das Unterhaus des deutschen Fußballs lässt mit Rekorden aufhorchen. Der 1. FC Magdeburg gilt bisher als eine der großen Überraschungen.
Mit lauten, weithin zu hörenden Schalmeien, einem Halleluja und jeder Menge Vorschusslorbeeren war die 2. Fußball-Liga Ende Juli angetreten. Um all dies zu lobpreisen, griffen deren Auguren tief in ihre Wortschatzkiste. Attraktiver als je zuvor sollte sie werden. Spannender als je zuvor. Spielerisch besser als je zuvor, das sowieso. Mithin, die Jubiläumsauflage der 1974 gegründeten Spielklasse sollte alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen.
Was ist draus geworden? Nachdem ein Fünftel der Spielzeit absolviert ist, vielleicht der rechte Zeitpunkt, sich einmal an einer ersten kleinen Zwischenbilanz zu versuchen.
Einige schwergewichtige Argumente, das muss ihnen zugestanden werden, hatten die Euphorie-Befürworter freilich auf ihrer Seite. Noch nie tummeln sich hier so viele Traditionsklubs und Ex-Erstligisten. Der Hamburger SV, Hertha BSC, Schalke 04 – das sind schon Namen mit gehöriger Klangwirkung. Hinzu kommen frühere Bundesligisten und deutsche Meister wie der 1. FC Nürnberg und Eintracht Braunschweig. Weiter: Hannover 96, der Karlsruher SC, Fortuna Düsseldorf, der FC St. Pauli.
Ganz Übereifrige postulierten, Liga zwei trete diesmal an, in der Aufmerksamkeit des Publikums sogar die „große“ Bundesliga zu übertreffen. Weil weite Teile des Publikums es satt seien, eine Bayern-Meisterschaft nach der anderen zu erleben. Elf sind es mittlerweile in Folge. Im Unterhaus dagegen, so die Argumentation, gehe es noch richtig zur Sache. Da liegen selbst die größten Experten oft mit ihren Tipps daneben, wer denn aufsteige, wer in die Relegation müsse oder in den sauren Abstiegsapfel zu beißen habe. So wie es zuletzt Arminia Bielefeld erleben musste, als sie von der ersten ohne Aufenthalt und störende Zwischengeräusche geradewegs in die dritte Spielklasse durchrutschte.
Hauptargument dabei: die emporschnellenden Zuschauerzahlen. Anders gesagt, die Resonanz bei den Massen. Die Deutsche Fußball-Liga (DFL) verzeichnet in diesem Sommer einen Rekord für die 2. Bundesliga. So wurden 2022/23 insgesamt exakt 6.779.038 Tickets abgesetzt. Das entspricht einem Durchschnittswert von 22.154 Karten pro Partie. Die Steigerung hat nicht nur mit Corona zu tun. Grundsätzlich ist das Interesse am Unterhaus gestiegen, wie sich im Vergleich zu früheren Spielzeiten erschließen lässt. So waren in der Saison 2018/19 noch 5.853.246 Tickets über die Ladentheke gegangen – die größten Zuschauermagneten waren damals der 1. FC Köln, der Hamburger SV und der FC St. Pauli sowie Dynamo Dresden.
Wieder lässt der Hamburger SC (909.989 Karten) im Sommer einen Spitzenwert in diese Statistik einfließen. Dahinter folgt der 1. FC Kaiserlautern (678.469 Karten), der vor allem für seine Auswärtsfahrten in der letzten Saison gelobt wurde. Über 500.000 Tickets verkauften auch Hannover 96, der 1. FC Nürnberg und Fortuna Düsseldorf. Wie lange der neue Rekord bestehen bleibt, wird sich zeigen. Schon für die laufende Saison zeichnet sich noch einmal gesteigertes Interesse ab. Zumal mit dem SV Sandhausen, Jahn Regensburg und dem 1. FC Heidenheim gleich drei Klubs die Liga verlassen haben, die im Zuschauerranking die letzten Plätze einnahmen. Hinzu kommen dafür Hertha BSC und der FC Schalke 04, sowie der VfL Osnabrück. Im Gegensatz zur Bundesliga, so analysierte „Sport Bild“, verspreche die 2. Liga mehr „und wird so zur besseren Bundesliga!“ Schon jetzt hätten die Städte mit Unterhaus-Mannschaften „mehr Einwohner als die der 1. Liga.“
Während beispielsweise der 1. FC Magdeburg einen neuen Dauerkarten-Rekord aufstellte, waren beim HSV die letzten zehn Spiele in Folge (also einschließlich der Vorsaison) mit 57.000 Fans ausverkauft. Das in Liga zwei! Das wäre in England Platz fünf im Zuschauerschnitt – vor Liverpool! In Italien und Spanien jeweils Rang vier. Die Weichen für eine spannende Zweitliga-Spielzeit waren also gestellt. Und richtig: Es verging seither kein Spieltag ohne ein Spektakel. Vom öffentlichkeitswirksamen Trouble und (sportlichen) Querelen in den drei vermeintlichen Vorzeige-Klubs HSV, Schalke und Hertha ganz zu schweigen. Die letzten beiden erwiesen sich bis jetzt jedoch als Scheinriesen. „Man hat sich in der 2. Liga längst gemütlich eingerichtet“, merkte dazu Kolumnist Alfred Draxler säuerlich an. „Die Hütte ist voll, die Stimmung prächtig. Man gewinnt häufiger, als man verliert. Und wenn es mit dem Aufstieg wieder nicht klappt, feiert man sich halt selbst.“
Apropos Weichenstellung. Ein Team, das bisher im Stellwerk eifrig mit an den Schaltknöpfen drückt, ist der FCM. Nachdem im Frühsommer vorzeitig der Klassenerhalt gelungen war, ging es nur in eine Richtung: nach oben. Kaum ein Experte weit und breit, der die Blau-Weißen seither nicht als Bereicherung der Liga lobt. Derzeit belegt man Rang sechs, allerdings nur einen Zähler von einem Aufstiegsrang entfernt. Bei aller Anfälligkeit (neun Gegentore in den letzten drei Partien) und Fehlerhaftigkeit in der Defensive, der technisch anspruchsvolle, offensiv ausgerichtete Besitzfußball Titz`scher Art begeistert. „Magdeburg rockt die Liga“, hieß es bei Sky. „Gegen die ist schwer zu spielen, sie haben eine hohe Ballsicherheit“, befand Schalke-Angreifer Sebastian Polter. Seit April wurde nur eine Begegnung verloren. Und wenn es um die Zweitliga-Spektakel ging, die in den letzten Wochen ganz Fußball-Deutschland in ihren Bann zogen und die Emotionen heißlaufen ließen, war der FCM häufig einer der Beteiligten (6:4 gegen Hertha, 3:4 auf Schalke).
Bei allen berechtigten Hosianna-Rufen auf die „Zweite“: Es gibt nicht nur Jubelmeldungen. Die mit dem meisten Nachhall und langfristig gefährlichsten sind vielleicht jene, bei denen es um die Finanzen geht. Vor allem um die TV-Gelder. Bis 2025 sind den DFL-Vereinen noch 1,1 Milliarden Euro pro Saison sicher. Aber danach! Branchen-Insider fürchten, dass sich die Summe dann auf eher 800 bis 900 Millionen Euro verringert.
Seither sucht die Deutsche Fußball-Liga (DFL), also die Vereinigung der 36 Profiklubs aus den obersten beiden Spielklassen, nach Ersatz. Seit sich im Frühsommer eine DFL-Mehrheit gegen das Engagement eines Mega-Investors aussprach (es ging immerhin um schlappe zwei bis drei Milliarden Euro), hängt der Haussegen schief zwischen Bundesliga-Großklubs und den anderen; darunter viele Zweitligisten. Die Aufkündigung des sogenannten Solidarpakts, der den Zweitligisten 20 Prozent der Gesamterlöse zusichert – obwohl sie nach DFL-Berechnungen nur acht Prozent davon erwirtschaften – steht wie ein Menetekel an die Wand geschrieben. Schon jetzt bekommen es laut „Sport Bild“ viele Unterhaus-Vertreter zu spüren: Wegen geringerer TV-Abschlagszahlungen fehlen den meisten Summen in sechs- bis siebenstelliger Höhe.
PS: Der 1. FC Magdeburg hatte sich bei der Abstimmung übrigens gegen einen Investoreneinstieg ausgesprochen. „Zunächst“, wie es ergänzend hieß.
Seite 29, Kompakt Zeitung Nr. 241