Stadtmensch:
Über Faulheit
Lars Johansen
Ich liebe es, faul zu sein. Und ich finde, es wird viel zu selten gelobt, dass ich das sehr gut kann. Es ist eine Kunst, die vielleicht nicht jeder beherrscht. Ich rede hier nicht von Prokrastination, also dem permanenten Aufschieben von wichtigen Aufgaben, obwohl ich auch darin sehr gut bin, sondern von der reinen Faulheit. Also sehr lange zu schlafen, um dann wirklich nichts zu tun, was irgendwie produktiv wäre. Natürlich geht das nicht oft und man muss sich dazu zwingen, aber es ist herrlich. Man kann es gerne auch entschleunigen nennen, doch strenggenommen ist es nicht entschleunigt, sondern komplett ohne jede Beschleunigung oder gar Bewegung. Es handelt sich um eine nahezu unbeschreibliche bewegungslose Starre, die dem Winterschlaf einiger Lebensformen ähnelt und sich einer weiteren Einordnung entzieht. Anders gesagt, es ist wundervoll entspannend und zugleich aufregend, denn danach kommt es zu verstärkten Aktivitäten. Manchmal.
Je kälter der Winter, desto ausgeprägter die Lust, nichts zu tun. Vor allem stellt es einen wunderbaren Gegensatz zur permanenten Geschäftigkeit von so vielen Zeitgenossen dar, welche sich den ganzen Tag selber disziplinieren, laufen, Sport treiben, Berge erklimmen und Leistung erbringen. Diese personifizierte Leistungsgesellschaft, die den Faulen ein schlechtes Gewissen machen soll, verweist schwer atmend darauf, dass man gesund leben müsse. Und ein ausgefülltes Leben muss es auch sein. Das sind die Menschen, deren Fotos von ihren Mahlzeiten die sozialen Medien verstopfen und den Zuschauenden immer zeigen sollen, dass sie existieren und zu leben verstehen. Der Faule macht kein Selfie von sich oder seiner Situation, sondern er bleibt mitteilungslos einfach liegen oder sitzen. Niemand muss erfahren, dass er gerade vor sich hin fault. Er ist sich selbst genug und belästigt seine Umwelt nicht mit medialen Ausscheidungen. Das fällt zugegebenermaßen heutzutage richtig schwer, denn wenn alle Auskunft über ihr Sein geben, dann mag man ungern zurückstehen. Schließlich gilt es als gesellschaftliches Manko, nichts zu tun. Doch diese ganze geradezu zwanghafte Beweglichkeit, die andauernde Hetze also, wirkt auf viele Menschen verstörend. Sie fühlen sich herausgefordert, sich noch mehr zu bemühen und immer mehr zu erleben. Oder wenigstens darüber zu reden, dass sie das tun. Sie füllen teilweise ihre Zeit damit, zumindest vorzutäuschen, aktiv zu sein, statt diese freie Zeit zur echten Entspannung zu nutzen. Die mediale Scheinrealität verlangt von uns Aktivitäten oder Berichte über ebendiese. Wer will schon als langweilig gelten? Und das ist Faulheit tatsächlich. Langweilig! Nicht für den Faulen selber, aber für seine Umgebung. Da passiert ja nichts, denkt der Vorüberschweifende und eilt von hinnen. Dabei passiert eine Menge. Meditation ist nichts anderes als eine spirituelle Faulheit, denn in dieser völligen Entspannung gelangt man zu erstaunlich profunden Erkenntnissen. Das Loslassen von allem nimmt Spannungen aus dem Körper, die oft Klarheit verhindern. „Ununterbrochen ist Krieg, sich zu errichten für einen Augenblick“, heißt es bei Rainald Goetz. Wir führen einen ständigen Krieg, außer wir verzichten auf das Errichten. Faule haben noch nie Kriege begonnen oder eine Machtergreifung angestrebt. Faulheit und Gewalt schließen einander schon qua Definition aus.
Ich gebe natürlich gerne zu, dass es sich nur um einen vorübergehenden Status halten sollte, denn die permanente Faulheit ist zu viel Entspannung. Etwas Spannung brauchen wir immer, um die Körperfunktionen zu erhalten. Außerdem ist die Demokratie eine Staatsform, welche nur bedingt Faulheit zulässt. Volksherrschaft bedeutet, dass wir regieren. Und das geht zwar entspannt, aber eben nicht komplett. Denn leider gibt es genug Zeitgenossen, die eine Demokratie durch einen starken Mann ersetzen wollen, der uns Verantwortung abnimmt und das Leben dadurch scheinbar einfacher und entspannter macht. In Wirklichkeit muss er uns dann in permanenter Bewegung halten, um das mit der Entspannung einhergehende Denken zu verhindern. Wer ständig zu tun hat, dem fehlt die Zeit zum Nachdenken. Und nur der wird nicht widerstehen. Aber das ist nun einmal der Nachteil der Demokratie, dass wir gefordert sind, nicht von außen jedoch, sondern aus uns selbst. Und wenn in Deutschland gerade jetzt ein paar hunderttausend Menschen sehr friedlich auf die Straße gehen, um die Demokratie zu verteidigen, dann ist das eine gute Entwicklung. Es zeigt, dass wir mehrheitlich zwar entspannt sein wollen, aber die Voraussetzungen dafür auch verteidigen werden. Und die Demokratiegegner, welche keine Schimäre, sondern höchst real sind, wie wir jetzt wissen, werden so zu der Minderheit, die sie eigentlich auch nur repräsentieren.
Die Mehrheit lehnt totalitäre Strukturen ab. Bedeutet das, dass die Mehrheit eigentlich faul ist? Vielleicht ja, aber sie weiß auch, dass man dafür kämpfen muss. Das Recht auf Faulheit muss immer wieder erstritten werden. Das zeigt uns die GDL genauso wie die Generation Z, welche nicht nur arbeiten wollen, sondern auch Zeit für Entspannung erkämpfen. Das hat mit der 35-Stunden-Woche geklappt und das wird auch in den neuen Tarifkonflikten am Ende funktionieren. Faule Menschen sind nicht konfliktscheu, denn sie zeigen die Grenzen der Leistungsgesellschaft genauso auf wie eine Abgrenzung zu Krieg und zu demokratiefeindlichen Bewegungen. Wie sagte es jemand so schön: „Ach, dann remigriert euch doch ins Knie.“ Oder anders: Entspannt einfach mal. Es gibt nichts Erholsameres, als nach einem gemeinsamen Einsatz für die Demokratie zusammen abzuhängen. Und ganz nebenbei, die künstliche Intelligenz beginnt allmählich langsamer zu werden. Wissenschaftler vermuten, dass sie die Faulheit entdeckt hat. Ich finde das, ehrlich gesagt, sehr beruhigend.
Seite 7, Kompakt Zeitung Nr. 248, 24. Januar 2024