Stadtmensch:
Es ist nie so einfach, wie geglaubt
Lars Johansen
Ich muss ehrlich gestehen, dass ich manchmal dazu neige, Dinge zu vereinfachen. Das macht es einfach leichter, für oder gegen etwas zu sein. Je weniger ich von Fachwissen belastet bin, desto lieber mag ich es, für oder gegen etwas zu streiten. Das ist nicht besonders klug oder gar vernünftig, aber, ich sehe täglich, dass ich damit nicht alleine bin. Mit Schwarzweißzeichnungen lässt sich am besten und mitunter auch am lautesten argumentieren. Ich komme aus einer Familie, in der man sich gerne einmal am Frühstückstisch wegen eher banaler Probleme anbrüllte, und der Lauteste gewann meistens diesen Wettstreit. Das ist keine gute Sozialisation und ich versuche sie auch, so gut es geht, zu überwinden. Aber das ist nicht leicht.
Wenn ich etwas höre oder lese, dann folge ich meist dem ersten Empörungsimpuls und überprüfe nicht immer alles, was da so an Informationen auf mich einprasselt. Und dann passieren mir Fehler, denn die aus einer unvollständigen Information gezogenen Schlüsse müssen nicht unbedingt richtig sein. Meistens sind sie es nicht. Und so ging es mir auch beim Abschluss der Berlinale erst einmal so, dass ich mich furchtbar über den Antisemitismus aufregte, der da vorne während der Dankesrede für den Dokumentarfilmpreis vor aller Augen sichtbar gezeigt wurde. Niemand schritt ein oder sagte etwas, das Publikum spendete sogar Applaus, während dort die Verbrechen der Hamas relativiert wurden. Und ja, das stimmte, es kam nur eine Seite zu Wort und das ist zumindest unglücklich gelaufen. Aber man darf eben nicht vergessen, dass auch der israelische Co-Regisseur Yuval Abraham auf der Bühne anwesend war und die israelische Politik im Westjordanland als „Apartheid“ bezeichnete. Er schrieb später, dass danach ein gewaltiger Shitstorm auf ihn eingeprasselt sei, er sich als Antisemit bezeichnen lassen musste und sogar persönlich bedroht wurde. Nun ist es so, dass er sich als Antisemit selber hassen müsste. Und das tut er nicht. Das Thema ist ein komplexes und so sehr ich den Überfall der Hamas verurteile, so wenig habe ich das Recht, einem Israeli zu erklären, wie er das zu sehen hat. Aber genau das geschah im Nachklapp. Claudia Roth, die Kulturministerin, agierte, wie nicht selten in letzter Zeit, eher unsouverän. Denn auch sie fiel in den Chor der Verurteiler mit ein. Das ist umso schwieriger zu verstehen, weil sie sich bei dem Eklat im Zuschauerraum befand und ebenfalls Applaus spendete. Ein Schicksal, welches sie mit dem neuen Berliner Kultursenator teilte, der sogar von Gratismut sprach und Zivilcourage der Zuschauer vermisste. Noch einmal, es wäre ein leichtes für ihn gewesen, aufzuspringen und zu widersprechen. Aber Frau Roth und er taten es nicht. Sie schwiegen und stimmten demnach eher zu.
Natürlich mache ich es mir jetzt ebenfalls leicht, Zivilcourage einzufordern, wo ich mich doch selber nicht in dieser Situation in diesem Saal befunden habe. Hätte ich mich dieser Welle der Zustimmung entgegengestemmt? Ich weiß es nicht. Aber im Nachhinein aufzustehen und klar zu protestieren, das erscheint mir dann doch ein wenig zu einfach. Denn ich beginne dann damit, eine freie Meinungsäußerung in einem freien Land einzuschränken. Nun mag mir diese Meinung nicht gefallen, aber das ist das Wesen der Demokratie, das Recht des anderen auf eine freie Meinung zu verteidigen. Und ehrlich gesagt, die Existenz des Staates Israel ist auch eine direkte Folge des Holocausts, denn ohne diesen wäre es möglicherweise nicht zu dessen Gründung gekommen. Und so tragen auch wir ein wenig Verantwortung für die Geschehnisse dort, auch wenn uns das nicht gefallen mag. Denn jedes Handeln hat Folgen, die man nicht immer abzuschätzen vermag.
Nun hatte Claudia Roth schon vor der Preisverleihung starken Gegenwind für ihre Entscheidung, den künstlerischen Leiter (seit 2019) Carlo Chatrian, abzulösen. Der große Martin Scorsese, welcher den Ehrenbär für sein Lebenswerk bekam, griff sie in seiner Dankesrede direkt an, weil er, wie auch viele andere Filmschaffende, mit diesem erzwungenen Rückzug einer verdienten Person nicht einverstanden war. Auch da schien die Kommunikation eher unglücklich verlaufen zu sein. Das setzte sich fort mit der viel zu späten Ausladung der AfD-Abgeordneten, deren Anwesenheit für die internationalen Gäste durchaus einen Affront dargestellt hätte. Man kann zusammenfassend festhalten, dass rechtzeitige Kommunikation keine Stärke der Ministerin darstellt.
Geärgert habe ich mich aber auch über den Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, der sich ebenfalls im Nachhinein zu Wort meldete und einfach apodiktisch festlegte, dass deutsche Kulturschaffende gar nicht antisemitisch sein könnten. Schließlich habe man ja auch die diesbezüglichen Vorgänge im Rahmen der letzten Documenta in Kassel genauestens aufgearbeitet. Und so etwas ist natürlich Unsinn, denn künstlerisch schaffende Menschen sind sehr vielschichtig. Ihre politischen Ansichten sind äußerst individuell und lassen sich nur schwer in Verbänden nivellieren. Und würde man das versuchen, dann stellte es ohnehin einen Eingriff in die persönliche Freiheit der Einzelnen dar. Man kann im Kulturbereich nicht einfach eine politische Haltung von oben erzwingen oder als durch Mehrheitsbeschluss gesichert begreifen. Das muss und wird mir persönlich nicht gefallen, denn ich lehne Antisemitismus sehr bestimmt ab. Aber ich muss Menschen davon zu überzeugen versuchen, verordnen kann ich es nicht. Solche Verordnungen würden die Kunst ärmer machen und einen Wust von Vorschriften nach sich ziehen, die einer Demokratie unwürdig sind.
Seite 6, Kompakt Zeitung Nr. 251, 6. März 2024