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Der Mahner

Rudi Bartlitz

Wie Sportreporter-Legende Werner Hansch in den Sumpf der Spielsucht geriet – und wie er dort wieder herausfand. Heute klagt er das Wettsystem und seine Hintermänner als „Blutsauger“ an.

 

Auf Einladung des Fan-Projekts Magdeburg und der Diakonie Jerichower Land/Magdeburg sprach Ex-Star-Reporter Werner Hansch anhand seiner Lebensgeschichte über die Folgen einer Suchterkrankung.
Foto: Tino Diesterheft

 

Der Mann, der da vor einigen Tagen in den Räumen des Magdeburger Fanprojekts steht, ist eine Legende. Zumindest, wenn es um Sportjournalismus in Rundfunk und Fernsehen geht. Werner Hansch. Seine Stimme, irgendwo in tiefen Bass-Regionen zu verorten, ist legendär. Auch heute noch, mit 85, ist es fesselnd, ihm zuzuhören. Er spricht energiegeladen, jeder Satz sitzt, ja, jedes einzelne Wort. Hinzu kommt die Wärme, die er ausstrahlt. Sein verschmitztes Grinsen, seine Art, Menschen für sich zu gewinnen. Hanschs Stimme, für viele war (und bleibt) sie einfach DIE Stimme des Ruhrgebiets. Sie erzeugt, schrieben die „Ruhr-Nachrichten“ einst, „ein wohliges Gefühl, wie ein frisch gezapftes Pils unter einem Kastanienbaum im Frühling“.


Über zwei Jahrzehnte hat der in Recklinghausen geborene Ex-Lehrer und studierte Sozialwissenschaftler von den Fußballplätzen dieser Welt berichtet. Egal, ob Bundesliga, Champions League oder WM. Zunächst für WDR und ARD, später für die Privaten. Er gehörte zu den ersten Kommentatoren, die Reinhold Beckmann einst zu „ran“ holte. Wenn Hansch erzählt, schwirren Namen einstiger Kicker-Größen wie Fritz Walter, Helmut Rahn und Franz Beckenbauer nur so durch die Luft.


Dabei war sein Weg zum Fußball, wie er jetzt in Magdeburg erzählt, alles andere als vorgezeichnet: „Eigentlich hat mich dieser Sport überhaupt nicht interessiert. Als Deutschland 1954 Weltmeister wurde und alle vor den damals noch seltenen Fernsehapparaten saßen, habe ich nebenan gespielt. Es juckte mich einfach nicht.“ Später dann – da war er schon Mitte 30 – landet er doch in einem Fußballstadion, der legendären Glückauf-Kampfbahn. Ein Kumpel ist Stadionsprecher auf Schalke – und ausgerechnet beim Spiel gegen die damals schon großen Bayern verhindert. Hansch, bis dahin nebenbei Kommentator auf Trabrennbahnen, springt ein. Ohne auch nur einen Hauch Ahnung zu haben von dem, was da ablief im Stadion.


Sein Debüt war „holprig“, wie er heute sagt. Bei der Mannschaftsaufstellung spricht er von „Startnummern der Spieler“ – nur dass da unten auf dem Rasen eben keine Pferde rennen. Im Stadion lachen sie, schlagen sich auf die Schenkel. Seltsamer Bursche heute da oben auf dem Sprecherplatz. Hansch schämt sich bis auf die Knochen und nimmt sich vor: „Das war mein erstes und letztes Fußballspiel!“ Er soll sich irren. Der Schalke-Präsident findet`s überraschend gut und überredet ihn, das künftig regelmäßig zu machen. Es werden sieben Jahre. Irgendwann wird ein Rundfunk-Chef auf Hanschs Stimme im Stadion aufmerksam. Und fortan geht dessen Leben in eine andere Richtung. Mit 40, wenn andere bereits beginnen, zart über ein Ausklingen ihrer Laufbahn nachzudenken, kommentiert er im Hörfunk sein erstes Fußballspiel überhaupt. Für ihn ist es wie heute: „4. November 1978. Zweite Bundesliga. Preußen Münster gegen Bayer Leverkusen.“


Doch Hansch ist nicht nach Magdeburg gekommen, um zwei Stunden lang Schnurren und Storys über sich und den Fußball zu erzählen. So amüsant sie auch sind. Ihn treibt etwas anderes an, es lässt sich inzwischen als eine Mission bezeichnen: Die Warnung vor dem Glücksspiel und dessen möglichen fatalen Folgen. Weil er selbst erlebt hat, wie es ist, plötzlich keinen Halt mehr im Leben zu haben, der Spielsucht verfallen zu sein. Wie es ist, „in eine Hölle zu stürzen“, wie er es nennt. Und weil er inzwischen auch weiß, dass es im Leben mehr gibt als Fußball, als das Millionengeschäft um Marktwerte junger Sportler.


Bei ihm kommt der Absturz, über den er heute eigentlich nur noch den Kopf schütteln kann, mit dem Eintritt in die Rente. Der Kalender zeigt das Jahr 2003 an. Von einem Tag auf den anderen ist er nicht mehr der gefeierte und preisgekrönte Fußball-Reporter, dessen Nähe viele suchen. Nicht mehr der Singvogel, wie er sich selbst nennt. Plötzlich wacht er morgens auf – und nichts ist zu tun, nichts, was Halt, „was dem Leben einen Sinn“ gibt. Und so kommt es, dass er irgendwann beim Stadtgang durch die geöffnete Tür einer Wettbude schaut. Er wird, weil viele ihn kennen und erkennen, hereingewunken. Ein Freund setzt für ihn 20 Euro auf ein Pferd. Es gewinnt, Hansch bekommt 42 Euro zurück. Oha, denkt er. Und dann beginnt es in ihm zu arbeiten. Oha, das geht doch bestimmt auch bei höheren Summen. „Ich wusste nicht, dass diese Lunte in mir lag, nun war sie angezündet – und sie brannte!“ Lichterloh.


Zu jener Zeit sind 22 Euro Gewinn für Hansch freilich nicht einmal ein Peanut. Er hatte gut verdient in all den Jahren als Star-Reporter. „Auf meinem Festgeldkonto lagen 750.000 Euro“, gibt er in der Magdeburger Runde ehrlich zu. „Dazu kam die Rente.“ Inzwischen weiß er: So viel Geld und so viel Zeit, „das hat mich in den Abgrund getrieben“. Als dann noch zwei Drittel des Angesparten für ein großes Haus in Dortmund und dessen Renovierung draufgehen, wähnt er sich plötzlich arm. „Versteht ihr?“, fragt er, die Augen weit aufgerissen. „Ich hatte noch 250.000 – und trotzdem das Gefühl, ich wäre nun arm. Völlig bekloppt.“


Eine Spirale beginnt sich zu drehen. Sie zieht ihn immer weiter nach unten. Über die Jahre verspielt er sein gesamtes Vermögen, veräußert das Haus, nimmt Schulden auf, die er nicht wieder zurückzahlen kann. Es geht so weit, dass ihm sogar Wasser und Strom abgestellt werden. Doch er will nicht einsehen, dass er einer Sucht verfallen ist, die er heute als Krankheit bezeichnet. Selbst dann nicht, als ihn seine Lebensgefährtin („Du bist spielsüchtig in schlimmster Form. Hör auf damit.“) warnt und später verlässt. „Ich habe mir stets eingeredet“, räumt Hansch im Rückblick ein, „ich hätte doch nur Pech gehabt. Aber morgen, morgen hole ich mir alles zurück.“


Aber da ist nichts zurückzuholen. Die Zahl der Gläubiger, darunter gute Freunde, die er angepumpt hat, wächst und wächst.  Hansch erzählt weiter Lügengeschichten, wo-zu er Geld brauche. Als eines Tages das Angebot kommt, bei der TV-Show „Promi Big Brother“ mitzumachen, sagt er nach Rücksprache mit einem guten Freund zu, um mit der Gage wenigstens einen Teil seiner Schulden zu begleichen. Aber es passiert mehr: Er nimmt all seinen Mut zusammen und nutzt die Sendung, um sich öffentlich zu seiner Spielsucht zu bekennen. Endlich ist es raus. Er empfindet es wie eine unendliche Befreiung. „Es ist ein kleines Wunder passiert. Ich habe mich vollkommen geoutet. Das war ein entscheidender Schritt zurück ins Leben.“ Von den 100.000 Euro, die er als Gewinner der Show erhält, bleibt ihm nicht ein Cent. Das gesamte Geld geht in die Schuldenrückzahlung. Hansch heute: „Das war auch völlig richtig so.“


Doch dabei will er es, trotz seiner 85 Jahre, nicht belassen. Er will anderen Betroffenen helfen, weil er um deren Ängste weiß, deren Lügengespinste zu kennen glaubt. So hat er heute wieder eine Aufgabe im Leben, die er mit Leidenschaft verfolgt. „Ich bin kein Arzt, ich bin kein Psychologe“, sagt er. „Ich habe nur eine Waffe. Das ist die Prävention. Prävention ist das Einzige, was in solchen Situationen hilft. Ich kann an meinem Beispiel zeigen, wohin man kommen kann. Nur dadurch, dass ich meine Geschichte öffentlich mache, kann ich der Gesellschaft etwas zurückgeben.“ Und fügt hinzu: „Es gibt keine andere Sucht, bei der man so schnell die wirtschaftliche Existenz vernichten kann wie bei der Spielsucht. Ich halte Präventionsvorträge an Schulen, an Unis und in Unternehmen und mache in den Medien auf die Gefahren aufmerksam.“


Und noch etwas liegt ihm sehr am Herzen. Er will über die, wie er es sieht, Machenschaften der weltweit wirkenden diversen Wett-Veranstalter aufklären, ob sie nun Online, in Wettbüros oder Casinos ihre Geschäfte betreiben. Die er schlichtweg „Blutsauger“ nennt. Egal, ob sie ihn dafür eventuell juristisch belangen. „Blutsauger, das ist deren Geschäftsmodell. Am Beispiel Fußball zeigt sich, wie sie ihn versaut und beschädigt haben.“ Durch seine Kooperation mit dem Wettbetrieb habe der Fußball „sein Gewissen verloren“.


Deshalb will er, Hansch, mit Fußball auch nur noch wenig zu tun haben. Das ist ebenso der Grund dafür, warum er vor allem einem Nicht-Ruhrpott-Klub die Daumen drückt: dem SC Freiburg. „Weil ich bei deren Trainer Streich immer das Gefühl habe, dass er weiß, dass es einfach noch wichtigere Dinge im Leben gibt. Wunderbar!“ Ein anderer „ist der Coach aus Heidenheim“. Wenn er also noch ein wenig Hoffnung für die Bundesliga hat, dann ruht sie auf Personen wie denen. Auch mit den Medien geht Hansch ins Gericht. Was ihn an der ARD, seinem einstigen Arbeitgeber, störe, sei, dass sie ihr Flaggschiff, die Sportschau, „an Tipico verkauft haben“. Und bekräftigt noch einmal: „Ihr verkauft euch an einen Blutsauger.“


Nur einmal an diesem Magdeburger Abend bricht Hanschs Stimme fast ab, wird spröde. Es passiert etwas sehr Ungewöhnliches: DIE legendäre Stimme des Ruhrpotts ist kaum noch zu vernehmen. Als er vom Verlust seiner Lebensgefährtin spricht. Alles wegen dieser verdammten Spielsucht.



KOMPAKT
Der Glücksspiel-Atlas

 

Die Anzahl der Menschen, die als spielsüchtig gelten, nehmen zu, denn der Glücksspiel-Markt findet längst nicht mehr in verrauchten Spielhallen statt. Zocken geht ganz einfach und zu jeder Zeit am heimischen PC oder am Handy. Laut „Glücksspielatlas 2023” sind in Deutschland 4,6 Millionen Erwachsene spielsüchtig oder zeigen erste Symptome dafür. Demnach leiden rund 1,3 Millionen an einer sogenannten Glücksspielstörung, weitere 3,3 Millionen Menschen zeigen ein riskantes Glücksspielverhalten mit ersten Anzeichen für eine Sucht.


Die sogenannten Bruttospielerträge der Glücksspielbranche – also das, was nach Abzug der ausgeschütteten Gewinne an Einnahmen reinkam – lagen im vergangenen Jahr bei 13,4 Milliarden Euro. Am meisten klingelt die Kasse der Anbieter immer noch bei den Spielautomaten (4,8 Milliarden), dahinter folgt Lotto (4,1). Ein starker Zuwachs zeichne sich bei Sportwetten seit deren Legalisierung im Herbst 2020 ab (1,4 Milliarden).


Was den Reiz an Glücksspiel ausmacht, erklärt Tobias Hayer, Glücksspielforscher an der Universität Bremen: „Da der Spielausgang beim Glücksspiel ausschließlich oder überwiegend vom Zufall abhängig ist, geht damit ein spannungsgeladener Moment der Ungewissheit einher.” Spieler hofften auf den großen Gewinn, gleichzeitig fürchteten sie sich davor, dass ihr Geldeinsatz weg sei: ein Adrenalin-Kick. Bei Sportwetten komme   meistens ein gewisses Interesse hinzu. „Niemand platziert eine Sportwette, wenn er nicht vorher schon einen gewissen Zugang zum Sport hat”, sagt Hayer.


Oft fängt es mit kleinen Einsätzen an, die dann immer größer werden. „Viele Glücksspielsüchtige sagen, dass sie am Anfang ihrer Spielerkarriere im Grunde Pech hatten, weil sie einen hohen Gewinn hatten”, so Hayer. Wer einmal schnelles Geld verdient, glaubt, er kann es auch ein zweites Mal schaffen. Und macht deshalb immer weiter. Aber auch andersherum greift die Spielsucht: Wer viel Geld bei einer Wette verzockt, versucht, das verlorene Geld durch weitere Wetten reinzuholen. „Dann ist es auch egal, auf welche Sportart oder welches Ereignis gewettet wird.”


Werner Hansch ist mit seinen 85 Jahren heute wohl ältester Startup-Unternehmer Deutschlands. Er ist Mitgründer des Portals zockerhelden.de, das sich zum Ziel setzt, Glücksspielverluste zurückzuholen von Anbietern, die ihre „Kunden” mutmaßlich ohne Rechtsgrundlage um ihr Geld gebracht haben. „Wenn ihr Probleme mit der Spielsucht habt“, ruft Hansch seinen Magdeburger Gastgebern zum Abschied zu, „meldet euch, vielleicht kann ich helfen.“

 

Seite 44, Kompakt Zeitung Nr. 252, 20. März 2024

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