Meter 71: Der Kaiser im Putz
Michael Ronshausen
Erzählungen aus der gotischen Kathedrale
Neben seiner Bedeutung als Gotteshaus ist der Magdeburger Dom bis heute eine Schatzkammer der Kunst. Diese stammt mehrheitlich aus der mittelalterlichen Epoche. Neben zahlreichen Grabdenkmälern – darunter auch viele aus der nachmittelalterlichen Zeit – finden sich plastische Glaubenszeugnisse, wie beispielsweise die Figuren Heiliger. Hergestellt wurden sie fast immer aus Stein, manchmal – wie etwa bei einigen Gräbern und Grabtafeln – auch aus Metall. Und Ernst Barlach schuf sein Magdeburger Mal aus Eichenholz.
Durch ihren im Freien befindlichen Standort heute nur noch mit Mühe erkennbar, findet sich an der Westwand des südlichen Kreuzgangflügels, oberhalb des Remters, ein beeindruckendes Kunstwerk von enormer Größe. Das Erstaunliche daran ist, dass es nach aller Vernunft heute gar nicht mehr existieren dürfte. Immerhin ist seit der Entstehung ein rundes dreiviertel Jahrtausend vergangen. Und Besucher des Domgartens haben es heute nicht leicht, das Kunstwerk in Form und bildlicher Aussage optisch zu erfassen.
Genau betrachtet, besteht das Kunstwerk weder aus Holz noch aus Metall oder Stein – sondern aus Luft. Wobei der vor 750 Jahren aufgebrachte Putz die Grundlage für die Darstellung der abgebildeten Personen, ihrer namentlichen Beschreibung und des ornamentalen Rahmens bildet. Dazu zählen die mit Handwerkszeug und möglicherweise auch mit Fingern in den Putz geritzten Bilder von dem auch so beschriebenen Kaiser Otto den Großen nebst seinen Ehefrauen, den Königinnen Editha und Adelheid.
Hinzu kommt eine 22 Bilder umfassende Reihe mit den Magdeburger Erzbischöfen, die zu diesem Zeitpunkt (um 1260) bereits in Amt und Würden waren. Auch sie sind namentlich benannt und durchnummeriert. Nach allem, was heute noch bekannt ist, muss die Bildersammlung insbesondere in der Zeit nach ihrer Entstehung beim Betrachter einen spektakulären Eindruck hinterlassen haben. Dieser verblasste jedoch mit der Zeit, und spätestens seit der Reformation spielte auch die Erinnerung an die früheren Kirchenfürsten kaum noch eine Rolle.
Darüber hinaus waren die Putzritzungen von Anfang an den Widrigkeiten der Natur ausgesetzt. Teile der Darstellungen wurden zudem mit anmontierten Grabtafeln überdeckt, weshalb sie für lange Zeit verschwanden, aber etwas geschützt besser bewahrt blieben. Ein tragfähiges Konzept zum dauerhaften Erhalt – zu den Ideen gehörten beispielsweise schützende Glasscheiben oder auch Konstruktionen ähnlich einem Sonnensegel – existiert bis heute nicht.
Seite 10, Kompakt Zeitung Nr. 253, 10. April 2024
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